Home - Religionskritik
 Antworten christlicher Theologie
Die folgenden Aussagen des katholischen Theologen und Religionsphilosophen Hans Küng (1928-2021) zeigen, dass die moderne christliche Theologie die Religionskritik zur Kenntnis nimmt. Küng, der selbst auch durch kirchenkritische Äußerungen bekannt wurde, weist aber den Ausschließlichkeitsanspruch der Kritiker seinerseits deutlich zurück.
Stellungnahme zu Marx, Feuerbach, Freud
Glaube und Wissenschaft    -    Diskussion

 
Gilt die moderne Religionskritik noch?

"...Nein, ich habe sie nicht vergessen, die Kritik der Religion, habe sie jahrelang studiert, mit viel Passion und wahrhaftig nicht ohne Sympathie für die Großen dieses Genres, von Feuerbach über Marx bis Nietzsche und Freud. In allzu vielem hatten und haben sie recht, als dass man sie auch heute noch (oder heute wieder) ungestraft ignorieren könnte. Denn analysiert man das Persönlichkeitsprofil so mancher frommer »Gläubiger« - und dies wahrhaftig nicht nur im Christentum -, so wird man es mit Ludwig Feuerbach nicht bestreiten können: Der Glaube an Gott kann den Menschen von sich selber entfremden und verkümmern lassen, weil der Mensch Gott mit den Schätzen seines eigenen Innern ausgestattet hat. Zu wenig menschlich, zu wenig Menschen sind diese Gottgläubigen, als dass Gottlose sich von ihrem Gottesglauben anstecken lassen könnten! Ja, man kann den Republikaner Feuerbach verstehen, dass er die Menschen von Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits machen wollte: aus den religiösen und politischen Kammerdienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien, selbstbewussten Bürgern.
Allerdings haben wir seit Feuerbach ein Doppeltes hinzugelernt:

1. Dass Gott nur das ins Jenseits hinausprojizierte, hypostasierte Spiegelbild des Menschen sei, hinter dem in Wirklichkeit nichts stehe, wurde von Feuerbach nie bewiesen, immer nur behauptet. Heute gibt es ungezählte Menschen, die freie, selbstbewusste Bürger der Erde sind, gerade weil sie an Gott glauben als den Grund und die Garantie ihrer Freiheit und Mündigkeit.

2. Auch der gott-lose Humanismus hatte allzu oft inhumane Folgen, und in den Schreckenserfahrungen unseres Jahrhunderts - zwei Weltkriege, Gulag, Holocaust, Atombombe -erwies sich der Weg von der Humanität ohne Divinität zur Bestialität oft als kurz.

Aber Rückfrage: Gilt die Aussage von den freien, selbstbewussten Menschen, die an Gott glauben, nicht bestenfalls für westliche Wohlstandsgesellschaften, kaum aber für Kontinente wie Lateinamerika? Hat man dort zur Analyse der unmenschlichen Verhältnisse, an denen nicht zuletzt Religion und Kirche schuld sind, nicht zu Recht Einsichten von Karl Marx herangezogen? Marx wollte die Kritik des Himmels in die Kritik der Erde verwandeln, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. Wer die oft unmenschlichen Verhältnisse etwa in Lateinamerika kennt, kann kaum bestreiten, dass der herrschende Gott der Christen vielfach der Gott der Herrschenden war: eine Jenseitsvertröstung, eine Deformation des Bewusstseins, ein Schmücken der Ketten mit Blumen, anstatt sie zu zerbrechen.

Inzwischen hat sich allerdings auch für die bisher Unbelehrbaren unwiderlegbar gezeigt, dass bei allen richtigen Analysen die Marxschen Lösungen - Abschaffung des Privateigentums und Sozialisierung von Industrie, Landwirtschaft, Erziehung und Kultur - zu einer beispiellosen Ausbeutung der Völker und einer Zerstörung von Moral und Natur geführt haben. Zu einem automatischen Absterben der Religion aber kam es, wie Marx annahm, global gesehen nicht. Statt der Religion war zwar eine Zeitlang die Revolution das Opium des Volkes - von der Elbe bis Wladiwostok, auch in Kuba, in Vietnam, Kambodscha und China. Aber jetzt hat sich von Osteuropa und der DDR über Südafrika bis nach Südamerika und den Philippinen gezeigt, dass Religion nicht nur Mittel der sozialen Beschwichtigung und Vertröstung sein kann, sondern auch - so schon in der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung - Katalysator der sozialen Befreiung: und dies ohne jene revolutionäre Gewaltanwendung, die einen Teufelskreis von immer neuer Gewalt zur Folge hat.

»Gewiss«, sagt da so mancher Zeitgenosse, »Gottesglaube mag Katalysator der äußeren, sozialen Befreiung sein. Aber die noch dringlichere innere, psychische Befreiung von Angst, Unreife und Unfreiheit?« Ich gebe zu: Mit vollem Recht kritisierte Sigmund Freud Machtarroganz und Machtmissbrauch der Kirchen, kritisierte er die Fehlformen der Religion, Realitätsblindheit, Selbsttäuschungen, Fluchtversuche und Verdrängung der Sexualität, kritisierte er aber auch ganz direkt das traditionelle autoritäre Gottesbild. In der Tat wird hinter der Ambivalenz dieses Gottesbildes sehr oft das ins Metaphysische, ins Jenseits oder in die Zukunft projizierte eigene frühkindliche Vater- oder Mutterbild sichtbar. Und selbst heute noch wird manchmal in religiösen Familien der strafende Vater-Gott von Eltern als Erziehungsinstrument zur Disziplinierung der Kinder missbraucht, mit langfristigen negativen Folgen für die Religiosität der Heranwachsenden. Der Gottesglaube erscheint so als Rückwendung zu infantilen Strukturen, als Regression auf kindliches Wünschen.

In der Zwischenzeit hat sich freilich erwiesen,

  • dass nicht nur die Sexualität, sondern auch die Religiosität verdrängt werden kann,
  • dass die ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit, die Freud zufolge die Stärke der Religion ausmachen, besser nicht als reine Illusionen abqualifiziert werden sollten;
  • dass in einer Zeit allgemeiner Orientierungs- und vielfacher Sinnlosigkeit gerade der Gottesglaube zu definitiver Sinnerfüllung im Leben und auch im Sterben verhelfen kann, aber auch zu unbedingten ethischen Maßstäben und zu einer geistigen Heimat.


So kann denn der Gottesglaube nicht zuletzt im psychischen Bereich statt einer versklavenden eine befreiende, statt einer schädigenden eine heilende, statt einer labilisierenden eine echt stabilisierende Funktion haben.

Damit dürfte deutlich geworden sein: Wer heute an Gott glaubt - zunächst allgemein umschrieben als transzendentimmanente, allumgreifend allesdurchwaltende wirklichste Wirklichkeit im Menschen und in der Welt - der braucht weder ins Mittelalter noch in die Reformationszeit noch in die eigene Kindheit zurückzufallen, der kann durchaus Zeitgenosse unter Zeitgenossen sein - gerade heute, im schmerzhaft langsamen Übergang zu einer nach-modernen Weltepoche.

Meine Antwort also auf die moderne Religionskritik zusammengefasst:
- Der Gottesglaube war und ist gewiss oft autoritär, tyrannisch und reaktionär. Er kann Angst, Unreife, Engstirnigkeit, Intoleranz, Ungerechtigkeit, Frustration und soziale Abstinenz produzieren, kann geradezu Unmoral, gesellschaftliche Missstände und Kriege in einem Volk oder zwischen Völkern legitimieren und inspirieren. Aber:

 - Der Gottesglaube konnte sich gerade in den letzten Jahrzehnten wieder zunehmend als befreiend, zukunftsorientiert und menschenfreundlich erweisen: Gottesglaube kann Lebensvertrauen, Reife, Weitherzigkeit, Toleranz, Solidarität, kreatives und soziales Engagement verbreiten, kann geistige Erneuerung, gesellschaftliche Reformen und den Weltfrieden fördern."
 

Aus: H. Küng, Credo. Das apostolische Glaubensbekenntnis, München 1992,S.23 f.
 
 



 
H. Küng
Stellungnahme zu Marx, Feuerbach und Freud

"...Die entscheidenden Argumente für seinen persönlichen Atheismus hat Freud im wesentlichen von Feuerbach und dessen Nachfolgern übernommen : "Ich habe bloß - dies ist das einzig Neue an meiner Darstellung - der Kritik meiner großen Vorgänger etwas psychologische Begründung hinzugefügt", sagt Freud bescheiden und richtig zugleich. Schon bei Feuerbach, so sahen wir, findet sich eine psychologische Begründung des Atheismus: Wünsche, Phantasie oder Einbildungskraft sind für die Projektion des Gottesgedankens und der ganzen religiösen Schein- oder Traumwelt verantwortlich. Wie schon die Opiums-Theorie von Marx, so gründet auch die Illusions-Theorie Freuds in der Projektions-Theorie Feuerbachs. Neu ist im wesentlichen nur Freuds psychoanalytische Vertiefung.
Aber das bedeutet nun für die Kritik des Freudschen Atheismus: Die Gründe, die gegen Feuerbachs (und Marx ) Atheismus, insbesondere gegen seine psychologischen und geschichtsphilosophischen Beweisgänge angeführt werden mussten, treffen auch für den Atheismus Freuds zu. Und insofern sich der Atheismus Feuerbachs (und Marx') als eine letztlich nicht stringent begründete Hypothese erwiesen hat, muss nun auch der Atheismus Freuds als eine letztlich nicht stringent begründete Hypothese erscheinen...

Es sei dies aber doch kurz im Hinblick auf Freuds zentrale religionskritische Aussage konkretisiert: "Die religiösen Vorstellungen sind Erfüllung der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit"? Ganz richtig, so kann auch der Gottesgläubige sagen. Und zugleich wird er zugeben: Gewiss kann Religion, wie Marx aufzeigt, Opium, ein Mittel sozialer Beschwichtigung und Vertröstung (Repression), sein. Aber: sie muss es nicht. Gewiss kann Religion, wie Freud aufzeigt, Illusion, Ausdruck einer Neurose und psychischer Unreife (Regression), sein. Aber: sie muss es nicht. Gewiss enthält alles menschliche Glauben, Hoffen, Lieben- auf einen Menschen, eine Sache oder auf Gott bezogen - ein Moment der Projektion. Aber: deshalb muss ihr Objekt nicht nur Projektion sein.

Gewiss kann der Glaube an Gott stark von der Einstellung des Kindes zum Vater beeinflusst sein. Aber: deshalb kann Gott doch existieren.
Also: Nicht dass der Gottesglaube psychologisch erklärt werden kann, ist das Problem. Psychologie oder nicht Psychologie ist hier eine falsche Alternative. Psychologisch gesehen weist der Gottesglaube immer Strukturen und Gehalte einer Projektion auf oder kann als reine Projektion verdächtigt werden. Auch jeder Liebende projiziert notwendig sein eigenes Bild auf seine Geliebte. Aber heißt das, dass seine Geliebte nicht existiert oder nicht doch wesentlich so existiert, wie er sie sieht und sich denkt? Kann er sie mit seinen Projektionen nicht vielleicht sogar tiefer erfassen als der, der sie als neutraler Beobachter von außen zu beurteilen versucht? Das Faktum der Projektion also entscheidet nicht über Existenz oder Nicht-Existenz des Objekts, auf das sie sich bezieht.

Und hier hat auch der Freudsche Schluss vom Anomalen auf das Normale, vom Neurotischen auf das Religiöse bei aller Berechtigung seine entschiedenen Grenzen. Religion ist menschliches Wunschdenken? Und deshalb darf Gott nur ein menschliches Wunschgebilde, eine infantile Illusion oder gar nur eine neurotische Wahnidee sein? Dem Wunsch nach Gott, so argumentierten wir schon gegen Feuerbach, kann durchaus ein wirklicher Gott entsprechen. Diese - noch eingehend zu diskutierende - Möglichkeit hat auch Freud nicht ausgeschaltet. Und warum sollte man das Wunschdenken ganz allgemein disqualifizieren? Ist Wünschen nicht ganz und gar menschlich, Wünschen im kleinen wie im großen, Wünschen in bezug auf die Güter dieser Erde, die Mitmenschen, die Welt und vielleicht doch auch - Gott?
Freilich steht es schlimm um einen religiösen Glauben, wenn er keine echten Gründe hat oder in einer psychoanalytischen Behandlung keine Gründe übrigbleiben; das wäre, auch wenn er sich noch so fromm gebärdet, ein unreifer, infantiler, unter Umständen gar neurotischer Glaube. Aber ist ein Glaube schon darum schlecht und spricht es schon gegen seine Wahrheit, weil in ihm - wie doch auch in der Psychoanalyse! - alle möglichen triebhaften Motive, libidinösen Neigungen, psychodynamischen Mechanismen, bewusste und unbewusste Wünsche mitspielen?"
 

Aus: H. Küng, Existiert Gott ?München 1981, S. 338 f.


 

 

zurück