Sigmund Freud
Psychologische Bedeutung
religiöser Vorstellungen
"Welches ist also die psychologische
Bedeutung der religiösen Vorstellungen?
Als was können
wir sie klassifizieren? . . .
Es sind Lehrsätze, Aussagen
über Tatsachen und Verhältnisse der äußeren
(oder inneren) Realität, die etwas mitteilen, was man selbst nicht
gefunden hat, und die beanspruchen, dass man ihnen Glauben schenkt . .
.
Wenn wir die Frage aufwerfen,
worauf sich ihr Anspruch gründet, geglaubt zu werden, erhalten wir
drei Antworten, die merkwürdig schlecht zusammenstimmen. Erstens,
sie verdienen Glauben, weil schon unsere Urväter sie geglaubt haben,
zweitens besitzen wir Beweise, die uns aus eben dieser Vorzeit überliefert
sind, und drittens ist es überhaupt verboten, die Frage nach dieser
Beglaubigung aufzuwerfen . . .
Es hilft nicht viel, wenn
für ihren Wortlaut (gemeint sind die Schriften, in denen die Beweise
niedergelegt sind) oder auch nur für ihren Inhalt die Herkunft
von göttlicher Offenbarung behauptet wird, denn diese Behauptung ist
bereits selbst ein Stück jener Lehren, die auf ihre Glaubwürdigkeit
untersucht werden sollen, und kein Satz kann sich doch selbst beweisen.
So kommen wir zu dem sonderbaren Ergebnis, dass gerade diejenigen Mitteilungen
unseres Kulturbesitzes, die die größte Bedeutung für uns
haben könnten, denen die Aufgabe zugeteilt ist, uns die Rätsel
der Welt aufzuklären und uns mit den Leiden des Lebens zu versöhnen,
dass gerade sie die allerschwächste Beglaubigung haben .. .
Man muss fragen, worin besteht
die innere Kraft dieser Lehren, welchem Umstand verdanken sie ihre von
der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirksamkeit?
Ich meine, wir haben die
Antwort auf beide Fragen genügend vorbereitet. Sie ergibt sich, wenn
wir die psychische Genese der religiösen Vorstellungen ins Auge fassen.
Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge
der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen,
Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche
der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke ihrer
Wünsche . . .
Wenn ich sage, das alles
sind Illusionen, muss ich die Bedeutung des Wortes abgrenzen. Eine Illusion
ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, sie ist auch nicht notwendig ein Irrtum.
Die Meinung des Aristoteles, dass sich Ungeziefer aus Unrat entwickle,
an der das unwissende Volk noch heute festhält, war ein Irrtum ...
Dagegen war es eine Illusion des Kolumbus, dass er einen neuen Seeweg nach
Indien entdeckt habe. Der Anteil seines Wunsches an diesem Irrtum ist sehr
deutlich. Als Illusion kann man die Behauptung gewisser Nationalisten bezeichnen,
die Indogermanen seien die einzige kulturfähige Menschenrasse, oder
den Glauben, den erst die Psychoanalyse zerstört hat, das Kind sei
ein Wesen ohne Sexualität. Für die Illusion bleibt charakteristisch
die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser
Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet sich, abgesehen
von dem komplizierteren Aufbau der Wahnidee, auch von dieser. An der Wahnidee
heben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor,
die Illusion muss nicht notwendig falsch, d. h. unrealisierbar oder im
Widerspruch gegen die Realität sein . . .
Wir heißen also einen
Glauben Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung
vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit
ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet ...
Es liegt nicht im Plane dieser Untersuchung, zum Wahrheitswert der religiösen
Lehren Stellung zu nehmen. Es genügt uns, sie in ihrer psychologischen
Natur als Illusionen erkannt zu haben."
(S. Freud,
Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, S. 346 ff., S. 105 ff.)
Religion als Vaterkomplex
und infantile Wunschvorstellung
"Die Psychoanalyse hat uns
den intimen Zusammenhang zwischen dem Vaterkomplex und der
Gottesgläubigkeit kennen gelehrt, hat uns gezeigt, dass der persönliche
Gott psychologisch nichts anderes ist als ein erhöhter Vater, und
führt uns täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den religiösen
Glauben verlieren, sobald die Autorität des Vaters bei ihnen zusammenbricht.
Im Elternkomplex erkennen
wir so die Wurzel des religiösen Bedürfnisses; der allmächtige,
gerechte Gott und die gütige Natur erscheinen uns als großartige
Sublimierungen von Vater und Mutter, vielmehr als Erneuerungen und Wiederherstellungen
der frühkindlichen Vorstellungen von beiden. Die Religiosität
führt sich biologisch auf die lang anhaltende Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit
des kleinen Menschenkindes zurück, welches, wenn es später seine
wirkliche Verlassenheit und Schwäche gegen die großen Mächte
des Lebens erkannt hat, seine Lage ähnlich wie in der Kindheit empfindet
und deren Trostlosigkeit durch die regressive Erneuerung der infantilen
Schutzmächte zu verleugnen sucht. Der Schutz gegen neurotische Erkrankung,
den die Religion ihren Gläubigen gewährt, erklärt sich leicht
daraus, dass sie ihnen den Elternkomplex abnimmt, an dem das Schuldbewusstsein
des einzelnen wie der ganzen Menschheit hängt, und ihn für sie
erledigt, während der Ungläubige mit dieser Aufgabe allein fertig
werden muss.
(S. Freud,
GW VIII, S. 127 ff.)
"In meiner Schrift
"Die Zukunft einer Illusion" handelte es sich weit weniger um die tiefsten
Quellen des religiösen Gefühls, als vielmehr um das, was der
gemeine Mann unter seiner Religion versteht, um das System von Lehren und
Verheißungen, das ihm einerseits die Rätsel dieser Welt mit
beneidenswerter Vollständigkeit aufklärt, anderseits ihm zusichert,
dass eine sorgsame Vorsehung über sein Leben wachen und etwaige Versagungen
in einer jenseitigen Existenz gutmachen wird.
Diese Vorsehung kann der
gemeine Mann sich nicht anders als in der Person eines großartig
erhöhten Vaters vorstellen. Nur ein solcher kann die Bedürfnisse
des Menschenkindes kennen, durch seine Bitten erweicht, durch die Zeichen
seiner Reue beschwichtigt werden. Das Ganze ist so offenkundig infantil,
so wirklichkeitsfremd, dass es einer menschenfreundlichen Gesinnung schmerzlich
wird, zu denken, die große Mehrheit der Sterblichen werde sich niemals
über diese Auffassung des Lebens erheben können. - . . . Wir
kehren zum gemeinen Mann und zu seiner Religion zurück, der einzigen,
die diesen Namen tragen sollte."
(S.
Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930, GW XIV, S. 431 f., S. 72 f.)
|
|