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Hirntod - Überblick
 
 
 
Kritik der Hirntodkonzeption

Im Mittelpunkt kritischer Auseinandersetzungen steht immer die Hirntodkonzeption bzw. die damit verbundene Frage des Sterbeprozesses. Wenngleich unumstritten ist, dass der Hirntod irreversibel ist, ist es keineswegs eindeutig, dass der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist.


 

Hirntote sind sterbende Menschen
  Deutschlandfunk (5.9.2018)  - Die Medizinhistorikerin Anna Bergmann kritisiert das Hirntotkriterium

Leichen bekommen kein Fieber
  Edzard Schmidt-Jortzig und Eckart von Klaeden (1997)

Zur Geschichte des "Hirntod"- Kriteriums
 J.Hoff/ J. in der Schmitten

Organtransplantation - Eine Anfrage an unser Verständnis von Sterben, Tod und Auferstehung.
  Zugleich eine Kritik der Schrift der Kirchen.
  Zusammenfassung eines Textes von Klaus- Peter Jörns

Wissenschaftler für ein verfassungsgemäßes Transplantationsgesetz
 Gegen die Gleichsetzung hirntoter Patienten mit Leichen (Mai 1995)

Interessengemeinschaft Kritische Bioethik
  Argumente gegen die Hirntodkonzeption

Der Streit um den Hirntod  - Video
  ARTE (2018)

Sabine Müller (2011):   Wie tot sind Hirntote?
 Argumente zur Gleichsetzung von Hirntod und Tod (BPB)


 
Leichen bekommen kein Fieber
von  Edzard Schmidt-Jortzig und Eckart von Klaeden

Frankfurter Allgemeinen Zeitung  13. Mai 1997
 

Im Zentrum der öffentlichen Diskussion eines Transplantationsgesetzes steht die Frage, welche Rolle es dem endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktion ("Hirntod") zuweisen soll. Einigkeit besteht, dass nach seinem Eintritt die Entnahme des Herzens, der Lungen, der Leber, beider Nieren, der Bauchspeicheldrüse und des gesamten Darms möglich sein soll. Die Aufnahme von diesbezüglichen Entnahmekriterien in ein Transplantationsgesetz befürworten daher alle dem Bundestag vorliegenden Anträge.

Darüber hinaus wird in dem Antrag der Abgeordneten Seehofer, Dreßler und andere gefordert, den endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der gesamten Hirnfunktionen als sicheres Zeichen des eingetretenen Todes des Menschen festzulegen. Das ist indessen nur geboten, wenn man daraus Erleichterung bei den Entnahmekriterien herleiten will, wie sie beim Zugrundelegen des reinen "Herztodes” - endgültiger Ausfall des Kreislaufsystems - als maßgeblichen Zeitpunkt des Lebensendes nicht gewährt werden könnte.

Bisher kommt nicht nur die Transplantationsmedizin ohne eine gesetzliche Todesdefinition aus. Der Gesetzgeber hat aus gutem Grunde darauf zum Beispiel im Embryonenschutzgesetz, im Gentechnikgesetz oder im Rahmen der Lebensschutzdelikte des Strafrechtes verzichtet. Eine solche Definition setzt die Transplantationsmedizin zudem unnötigerweise dem Verdacht aus, an einer funktionalen Todesdefinition interessiert zu sein.

Wir halten eine solche Festlegung darüber hinaus wegen der bestehenden Zweifel für unvertretbar.
Die Befürworter einer solchen Festlegung stützen ihre Ansicht auf die beiden wesentlichen Funktionen des menschlichen Gehirns: Seine Steuerungs- bzw. Integrationsfunktion für den Organismus und seine Unabdingbarkeit für die Möglichkeit der bewussten Wahrnehmung, für die Geistigkeit des Menschen.

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, der Philosophieprofessor Birnbacher, der Neurologe Angstwurm, der Chirurg Eigler und der Rechtsmediziner Wuermeling erläutern dazu: "Entsprechend der Natur des Menschen und jedes Säugetieres als Bewusstseins- und Körperwesen unterscheiden sich Leben und Tod durch Funktion und Funktionsverlust zweier Systeme: des Bewusstseins und des physischen Organismus. Der irreversible Funktionsverlust nur eines dieser Systeme reicht nicht aus, einen Menschen tot zu nennen. Ein Mensch im irreversiblen Koma ist nicht tot, weil und solange er als biologischer Organismus lebt."
Es trifft indessen - gottlob - nicht zu, wie mitunter behauptet wird, dass in der Medizin der Hirntod als maßgebliches Kriterium völlig unbestritten sei. Gerade eben erst ist diesem Eindruck etwa im Hastings Center Report umfassend und grundsätzlich entgegengetreten worden. Und ewta Gerhard Roth, der Leiter des Instituts für Hirnforschung der Universität Bremen, hat noch unter dem 15. April 1997 öffentlich dafür plädiert: "Der künstlich beatmete Hirntote ist keine Leiche.”

Der Göttinger Strafrechtler Schreiber hat in dieser Zeitung zurecht darauf hingewiesen, dass medizingeschichtlich die Feststellbarkeit und Separierung des Hirntodes als Fortschritt gegenüber der früher allein ausreichenden Feststellung des Herz- und Kreislauftods anzusehen ist. Daraus sogleich absolute Schlüsse ziehen zu wollen, verkennt jedoch, dass es gerade dieser intensivmedizinische Fortschritt ist, der seinerseits die Zweifel am Hirntodkriterium als sicheres Todeszeichen im besonderen hinsichtlich des irreversiblen Funktionsverlustes des physischen Organismus immer stärker werden lässt.
Besonders deutlich werden diese Zweifel am Beispiel der sog. Erlanger Schwangeren. Am 5. Oktober 1992 wurde die 19-jährige Marion Ploch in die Erlanger Universitätsklinik eingeliefert und drei Tage später aufgrund einer Hirntoddiagnose für tot erklärt. Weil sie schwanger war, projektierten die Ärzte mit großer Zuversicht eine sechsmonatige Intensivbehandlung bis zur Entbindung des Kindes. Dieser Versuch scheiterte nach fünf Wochen infolge eines spontanen Aborts. Es ist heute jedoch unbestritten, dass mehrere gleichartige Fälle zur Geburt gesunder Kinder geführt haben.
Doch ist es gerade im Falle von Marion Ploch dieser Abort, der die Hirntodthese radikal in Frage stellt. Der Philosoph Hans Jonas führt dazu aus: "Dass es ein 'Leichnam' sein soll, der da ein Fieber entwickelt, wenn in einem darin eingeschlossenen Organismus etwas schief geht, und das dies der Uterus einer 'Toten' sei, der dann die Kontraktionen vollführt, die das nun tote Kind ausstoßen - das ist doch ein offenbarer verbaler Unfug, ein semantischer Willkürakt im Dienst eines äußeren Zwecks (…). Der spontan abortierende Leib gab rückläufig und endgültig jedem Augenschein des rosig durchblutenden warmen Leibes recht, den die gelehrten Herrn uns archaischen Laien für trügerisch erklärten.”
Im Klartext: Leichen bekommen kein Fieber und tragen auch keine Kinder aus.

Der Erlanger Fall drängt den Eindruck auf, dass die Hirntodtheorie die Interaktion der verschiedenen Organsysteme, des Rückenmarks und der Hormone verkennt. Alle diese Systeme steuern in ihrem Zusammenwirken den Lebensablauf des Menschen. So ist der hirntote Körper unter anderem fähig zur Regulation der Körpertemperatur (z. B. durch Schwitzen), zum Stoffwechsel, zu Bewegungen, zur Regulation des Blutdrucks (der Blutdruck des Hirntoten steigt dramatisch an, wenn sein Körper zur Explantation geöffnet wird; ihm werden dann blutdrucksenkende Mittel zugeführt), bei männlichen Hirntoten zu Erektionen und bei weiblichen Hirntoten zur Geburt eines gesunden Kindes oder zur Abstoßung der Leibesfrucht, wenn diese abgestorben oder schwer geschädigt ist. Der Ausfall eines auch noch so wichtigen - Organs allein kann nicht mit dem Tod des gesamten Organismus gleichgesetzt werden, ohne die Komplexität des menschlichen Körpers zu verkennen.
Hier kommt es darauf an, das physische Sein des Menschen in seiner Vielgestaltigkeit ebenso wie seiner Ganzheitlichkeit anzuerkennen. Es bedarf ehrlicher Erfassung dieser Einmaligkeit als Gesamtschöpfung, um die nicht zur zivilisatorische und ethische, sondern konkret staatliche Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens umfassend zu erfüllen. Nicht von ungefähr thematisiert die Verfassung nirgends den Tod des Menschen. Umgekehrt vielmehr, konstruktiv und aktivierend, nimmt sie den Ansatz: "Jeder (Mensch) hat das Recht auf Leben.” (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz (GG)).

Angesichts der besonderen Stellung des Schutzes der Menschenwürde und des menschlichen Lebens sowie des Grundsatzes des Bundesverfassungsgerichts, nach dem in Zweifelsfällen die Auslegung zu wählen ist, die die juristische Wirkungskraft am stärksten entfaltet, darf es daher nicht zu einer derartigen Todesdefinition im Transplantationsgesetz kommen.
Der Verzicht auf ein solches Todeskriterium ist auch deshalb nötig, weil Weiterungen Einhalt geboten werden muß, die sich schon jetzt im europäischen Ausland abzeichnen. Wer Hirntote für tot erklärt, entzieht ihnen damit den entscheidenden Teil ihres grundrechtlichen Schutzes. Das postmortale Persönlichkeitsrecht und das Recht der Leichensorge werden sie auf Dauer nicht vor absehbaren industriellen Versuchsbegehrlichkeiten schützen können.

Bedenklich ist aber auch eine andere Tendenz: Lässt sich die durch den Eintritt des Hirntodes zwar reduzierte Leistung des Organismus nicht mehr mit Sicherheit leugnen, entfällt das Argument des irreversiblen Funktionsverlustes des physischen Organismus.
Die Hirntodkonzeption wird allein auf den endgültigen Bewusstseinsverlust zurückgeworfen. Es fehlt damit an einem tauglichen Kriterium, z. B. Anenzephale (Säuglinge, denen ausgedehnte Teile des Gehirns fehlen) von Leichen zu unterscheiden. Denn dem Anenzephalen fehlt sein Bewusstsein ebenso endgültig wie dem Hirntoten. Der einzige wesentliche Unterschied zwischen dem Anenzephalen und dem Hirntoten besteht dann darin, dass der erstere noch nie über ein noch funktionierendes Gehirn verfügte, während der letztere zwar ein funktionierendes Gehirn hatte, dieses aber durch den Hirntod verlor. Küfner geht in seiner Dissertation zurecht davon aus, daß das Argument, dieser Unterscheid genüge, um den Anenzephalen als (noch) lebend, den Hirntoten dagegen als schon gestorben anzusehen, nicht zwingend ist.
Befürworter der Hirntodkonzeption befürchten nun, daß mit dem Verzicht auf eine verbindliche Todesdefinition jede Transplantation zwischen Hirntod und Herz- und Kreislaufzusammenbruch zu einer unerlaubten Tötungshandlung werde. Daneben werde der Weg zur aktiven Sterbehilfe eröffnet. Diese Sorgen verdienen Beachtung, greifen aber nicht durch.

Vermeidet der Gesetzgeber eine Todesdefinition, ist damit nicht die Entscheidung für eine der im übrigen unterschiedlichen Vorstellungen der Hirntodkritiker vom Ende des Lebens verbunden. Sie steht dem Gesetzgeber auch nicht zu.
Denn der Tod bedeutet das Ende des menschlichen Lebens, was er ist, muss also vom Leben her bestimmt werden (Schreiber). Der Düsseldorfer Verfassungsrechtler Sachs hat in der Anhörung des Rechtsausschusses dazu zutreffend festgestellt, dass die Frage, ob noch von "Leben” im Sinne des Artikels 2 Absatz 2 Satz 1 GG gesprochen werden könne, eine rein verfassungsrechtliche Frage ist. Durch die Verwendung des Begriffs "Leben” in der erwähnten Grundrechtsbestimmung liege dieser in seinem Bedeutungsgehalt verfassungsunmittelbar fest. Der Gesetzgeber besitze als Teil der grundrechtsgebundenen Staatsgewalt grundsätzlich keine Kompetenz zur sog. authentischen Interpretation der Verfassungsbegriffe. Auch eine Ermächtigung zur Regelung des Näheren, die eventuell eine definitorische Abgrenzungsmacht des Gesetzes einschließen könnte, kenne Artikel 2 Absatz 2 GG nicht.
Daraus ergibt sich, dass auch die Entnahmevoraussetzungen eines Transplantationsgesetzes sich an Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG messen lassen müssen.
Entscheidend für die Vereinbarkeit mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG ist die Zäsur, die der völlige und irreversible Hirnausfall im Sterbeprozess des Menschen darstellt. Diese Situation ist medizinisch so eindeutig von jedem anderen Zustand abgrenzbar und einmalig, dass die Gefahr einer Ausweitung auf andere Indikationen ausgeschlossen werden kann. Ein Indiz dafür ist ja gerade seine Annahme als sicheres Todeszeichen durch die Befürworter der Hirntodkonzeption. Als bloßes Entnahmekriterium erhält der Hirntod allerdings weder eine zweifelhafte metaphysische Dimension noch wird er zu einer gesetzlichen Novität.

Es ist unbestritten, dass jedenfalls mit dem Hirntod die Pflicht des Arztes zur Aufrechterhaltung der Herz-Kreislauf- und weiterer Körperfunktionen endet und in die Verpflichtung wechselt, den natürlichen Sterbeprozess nicht weiter aufzuhalten. Allein aus diesem Grunde ist es unhaltbar, im Falle einer nach Eintritt des Hirntodes stattfindenden Organentnahme eine Tötung auf Verlangen und damit aktive Sterbehilfe oder Euthanasie anzunehmen; denn der Hirntote "bedarf” gerade keiner Hilfe mehr, um zu sterben.
Allerdings ist es gerechtfertigt, in den natürlichen Sterbeprozess dann verlängernd einzugreifen, wenn es um die Verwirklichung eines sittlich hochstehenden Zieles, nämlich die Rettung eines anderen Menschenlebens durch Organspende, geht. Diese Situation unterscheidet sich diametral von der des § 216 StGB, der eine Lebensverkürzung auf Tötungsverlangen, aber nicht einen verlängernden Eingriff in das sonst sittlich gebotene Sterbenlassen pönalisiert.
Ein solcher Eingriff in den natürlichen Sterbevorgang bedarf der Einwilligung. Es ist Ausdruck der jedem Menschen innewohnenden und unveräußerlichen Würde, das Dritte nicht ohne oder gegen seinen Willen über seinen Körper verfügen können. Ein strafbares Delikt mag dann in Frage kommen, wenn es an dieser Einwilligung fehlt. Eine spezielle Regelung ist für das Transplantationsgesetz vorgesehen.
Auch angesichts des Prinzips der Einheit der Rechtsordnung fällt die Beantwortung der Frage, wann das Vorliegen eines Tötungsdelikts überhaupt erwogen werden kann, eindeutig aus. Es ist abwegig, auch nur tatbestandlich eine Straftat anzunehmen, wenn eine Explantation de lege artis einem formell und materiell verfassungsmäßigen Gesetz entsprechend vorgenommen wurde. Änderungen des Strafgesetzbuches "zur Klarstellung” würden diese Selbstverständlichkeit in Frage stellen. Sonst hat der Strafrechtskommentator Tröndle in dieser Zeitung zum Unterschied zwischen Tötung und Spende alles Nötige gesagt.

Dem von dem Gießener Staatsrechtler Höfling entwickelten Botenmodell folgend wollen wir diese Einwilligung an keine formalen Voraussetzungen binden. Sie soll auch durch die Angehörigen vermittelt werden können. Unterschiedlich kann man insoweit noch sehen, ob für die Einwilligung der tatsächlich geäußerte Wille des Spenders nötig ist oder der mutmaßliche Wille ausreicht.

Unser Modell der Bürgerpflicht will diese Frage jedoch weitgehend gegenstandslos machen. Aus dem Solidargedanken heraus soll jedermann eine Entscheidung für oder gegen die Bereitschaft zur Organspende treffen. Diese Entscheidung ist in einem bundeszentralen Spenderregister festzuhalten und kann jederzeit geändert werden. Bei möglichst vielen Gelegenheiten, z. B. der Ausgabe des Personalausweises, des Führerscheins oder der Versichertenkarte der Gesetzlichen Krankenversicherung, sollen die Bürgerinnen und Bürger immer wieder mit der Frage ihrer Spendebereitschaft konfrontiert werden. In den USA etwa vermerkt man die entsprechende Erklärung gleich auf der Rückseite des Führerscheins.
Begleitet werden muss die Bürgerpflicht durch eine umfassende und kontinuierliche Aufklärung durch den Staat. Er hat die Verpflichtung, über alle wesentlichen medizinischen, rechtlichen und ethischen Fragen in allgemeinverständlicher Weise zu informieren, und das könnte in einem übersichtlichen Faltblatt zu den o. a. Gelegenheiten geschehen.
Die Bürgerpflicht erleichtert zudem die Situation der Angehörigen, die neben dem Verlust eines geliebten Menschen sonst gleichzeitig die Situation der Entscheidung über die Organentnahme zu bewältigen hätten.
Es ist selbstverständlich, dass diese Bürgerpflicht das Recht zur Nichtentscheidung einschließen muss. Für diese Fälle könnte dann die Frage des mutmaßlichen Willens eine Rolle spielen. Für ein Kind übrigens - denn die Kinder-Organtransplantation spielt eine nicht unerhebliche Rolle - würden seine Eltern entscheiden. Aber das wäre dann systematisch nicht ihre eigene Entscheidung, sondern die vom gesetzlichen Vertreter substituierte des Kindes.



Edzard Schmidt-Jortzig (* 1941) em Prof. für Öffentliches Recht.  1996–1998 Bundesjustizminister. 
Eckart von Klaeden (geb.1965), Jurist, ehem. CDU-Politiker
 



 
 
 
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