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Zur
Geschichte des "Hirntod"-Kriteriums
Der «Hirntod»
- eine Folge des medizinischen Fortschritts? |
Ist der Mensch tot, wenn
seine Hirnfunktionen erloschen sind? Die Praxis, Menschen unter Berufung
auf den Ausfall ihrer Hirnfunktionen für tot zu erklären, ist
1993 gerade 25 Jahre alt geworden. Jahrtausendelang wurde ein Mensch frühestens
dann für tot erachtet, wenn er kalt und steif, eben leblos war. Einen
Menschen, dem das Blut noch warm durch die Adern rinnt, für tot zu
erklären, blieb unserem fortschrittlichen Zeitalter vorbehalten.
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg
hatte noch niemand einen "Hirntoten" gesehen. Die künstliche Beatmung
war noch nicht erfunden, ebenso wenig die Herzmassage. Da jede hinreichend
schwere Schädigung des Gehirns vom Stillstand der Atem- und Kreislauftätigkeit
begleitet war, führte sie zwangsläufig zum Zusammenbruch des
Organismus, zum Tode. Weniger schwere Hirnschädigungen hatten schlimmstenfalls
sogenannte Wachkomas zur Folge, in denen der Patient noch selbständig
atmet (Coma vigile, apallisches Syndrom).
Im Jahre 1959, die künstliche
Beatmung wurde bereits seit einiger Zeit praktiziert, beschrieben die französischen
Ärzte Mollaret und Goulon einen neuen medizinischen Zustand. Sie hatten
Patienten beobachtet, deren Gehirn nach einem längeren Atemstillstand
durch Sauerstoffmangel irreversibel - unumkehrbar - zerstört war,
während ihr Organismus durch künstliche Beatmung am Leben erhalten
werden konnte. Diesen Zustand bezeichneten Mollaret und Goulon als "Coma
depasse' ", also "jenseits,des Komas" oder "endgültiges Koma".
Mit der Verbreitung der Herz-Lungen-Wiederbelebung
nach Einführung der externen Herzmassage im Jahre 1960 stieg die Zahl
der Patienten an, die nach einem vorübergehenden Kreislauf und Atemstillstand
mit irreversibel zerstörtem Gehirn - also im Coma depasse - weiterlebten.
Die Begegnung mit irreversibel komatösen Patienten gehört seither
zum intensivmedizinischen Alltag.
Nach dem damals noch gültigen
Todesverständnis galten diese Patienten aber nicht etwa als tot. Für
tot erklärt wurde ein Mensch erst dann, wenn mit dem Stillstand von
Kreislauf und Atmung alle seine vitalen Funktionen für immer erloschen
waren. ...
Die Verfahren der Todesfeststellung,
auf die sich Ärzte1951 noch hatten verlassen können, mussten
freilich nach Einführung der Herz-Lungen-Wiederbelebung als unzulänglich
empfunden werden. Seit ein kurzer Stillstand von Herzschlag und Atmung
grundsätzlich wieder rückgängig gemacht werden konnte, war
seine einmalige Feststellung nicht mehr ausreichend für die Diagnose
eines «völligen» (im Sinne von irreversiblen) Ausfalls
der vitalen Lebensfunktionen. Die diagnostischen Verfahren zur Feststellung
des Todes hätten nun dergestalt präzisiert werden können,
dass sie der kurzen Zeitspanne Rechnung trugen, innerhalb deren ein Kreislaufstillstand
prinzipiell umkehrbar sein kann - unter Normalbedingungen zum Beispiel
durch den Nachweis eines Kreislaufstillstands über die Dauer einer
Viertelstunde. Der überkommene Todesbegriff, nach dem ein Mensch erst
dann als tot gilt, wenn sein Kreislauf für immer zum Stillstand gekommen
ist, wurde durch die Anwendung der Herz-Lungen-Wiederbelebung also nicht
in Frage gestellt.
Die verbreitete Vorstellung,
der medizinische Fortschritt hätte einen grundlegenden Wandel des
Todesverständnisses erforderlich gemacht, entbehrt daher jeder sachlichen
Grundlage. Was den speziellen Fall von Patienten im irreversiblen Koma
betrifft, so wiesen selbst Mollaret und Goulon in dem erwähnten Aufsatz
darauf hin, dass der unumkehrbare «Stillstand der Lebensfunktionen»
unmittelbar nach Abbruch der künstlichen Beatmung eintritt - eine
Bewertung, die bei der Rezeption dieser Arbeit geflissentlich übersehen
worden ist.
Dennoch entschloss man sich
zur Abkehr von dem damals gültigen, an dem völligen Zusammenbruch
der Lebensfunktionen orientierten Todesverständnis, mit der Folge,
dass Patienten im irreversiblen Koma schon vor Abbruch der lebensverlängernden
Maßnahmen für tot erklärt wurden.
Deklaration des irreversiblen
Komas zum «Tod des Menschen» im Jahre 1968
Der entscheidende Schritt.
zur Etablierung des "Hirntod"-Konzeptes wurde in dem Augenblick vollzogen,
als man das Coma depasse als Kriterium der «Für-tot-Erklärung»
eines Menschen zu werten begann. Die Forderung nach Einführung eines
derartigen «Hirntodkriteriums» wurde erstmals in einem Papier
aus dem Jahre 1968 wirksam erhoben. Bei den Autoren handelte es sich um
eine Adhoc-Kommission aus Theologen, Juristen und Medizinern der Harvard
Medical School (Beecher et al.), die zum Zweck der Erarbeitung eines neuen
Todeskriteriums formiert worden war.
Der erste Satz nennt als
Ziel des Artikels die Etablierung des Hirntodes als Todeskriterium. Wer
im Anschluss eine Begründung erwartet, warum die Zerstörung des
Gehirns als Kriterium für den Tod des Menschen geeignet sein soll,
wird enttäuscht. Die Autoren beschränkten sich vielmehr darauf,
den Bedarf für ein neues Todeskriterium zu erklären:
Unser primäres Anliegen
ist, das irreversible Koma (= Coma depasse als neues Todeskriterium zu
definieren. Es gibt zwei Gründe für den Bedarf an einer neuen
Definition: 1 . Der medizinische Fortschritt auf den Gebieten der Wiederbelebung
und der Unterstützung lebenserhaltender Funktionen hat zu verstärkten
Bemühungen geführt, das Leben auch schwerstverletzter Menschen
zu retten. Manchmal haben diese Bemühungen nur teilweisen Erfolg:
Das Ergebnis sind dann Individuen, deren Herz fortfährt zu schlagen,
während ihr Gehirn irreversibel zerstört ist. Eine schwere Last
ruht auf den Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden,
auf ihren Familien, auf den Krankenhäusern und auf solchen Patienten,
die auf von diesen komatösen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen
sind.
2. Überholte Kriterien
für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung
von Organen zur Transplantation führen.
Nach Ansicht der Harvard-Kommission
wird das irreversible Koma von allen Beteiligten - den irreversibel Komatösen
eingeschlossen - als eine schwere Belastung (great burden) empfunden. Zugleich
bedeutete die Am-Leben-Erhaltung dieser Patienten eine spürbare Inanspruchnahme
knapper Ressourcen, der man ratlos gegenüberstand. Denn die Ärzteschaft
schreckte damals davor zurück, die künstliche Beatmung eines
irreversibel komatösen Patienten abzustellen, da sie der Meinung war,
den durch den Beatmungsabbruch mittelbar eintretenden Tod im Sinne einer
"aktiven Tötung" verantworten zu müssen.
Als zweiter Grund für
den Bedarf an einer neuen Todesdefinition wurde damals die Notwendigkeit
der Beschaffung von Organen zu Transplantationszwecken angegeben. Das geltende
Todeskriterium, so die Harvard-Kommission, sei obsolet, weil es den Fortschritt
der Transplantationsmedizin behindere.
Auf die Begründung
des Bedarfs für eine neue Todesdefinition folgte eine detaillierte
Erklärung, wie das irreversible Koma zu diagnostizieren sei. Die -
seither weiterentwickelten - diagnostischen Einzelheiten sind hier nicht
von Interesse; sie dienen dazu, das sichere Erlöschen aller Gehirnfunktionen
festzustellen....
Der Vorschlag der Harvard-Kommission
war ein voller Erfolg. Er setzte sich in den USA schnell durch und wurde
innerhalb weniger Jahre von den medizinischen Standesorganisationen der
meisten Industriestaaten übernommen.
Die Unverletzlichkeit
des Leibes als ethisches Prinzip
Wie wir ... dargelegt haben,
weiß die traditionelle ärztliche Standesethik noch sehr genau
zu differenzieren zwischen dem Verbot, einen Menschen zu töten, und
dem Gebot, einem notleidenden Menschen Hilfe zu leisten, beziehungsweise
der Verpflichtung, die Durchführung einer medizinischen Maßnahme
abzubrechen, wenn diese für den Patienten eine unzumutbare Belastung
darstellt. Dieser Differenzierung entspricht in den traditionellen Ethiken
die Unterscheidung zwischen einer (verbotenen) "aktiven" und einer (erlaubten)
"passiven" Sterbehilfe («Euthanasie»). Ob man eine lebensverlängernde
Maßnahme abbricht oder ob man ein tödliches Gift verabreicht,
macht nach dieser Differenzierung einen entscheidenden Unterschied. Denn
im letztgenannten Fall handelt es sich um eine verbotene Tötungshandlung
selbst wenn der Patient damit einverstanden ist.
In der jüngeren ethischen
Diskussion ist diese Differenzierung immer häufiger in Frage gestellt
worden. Dies hängt aber nicht nur damit zusammen, dass eine präzise
handlungstheoretische Differenzierung zwischen einem bewussten Tun (Tötung)
und einem bewussten Nichttun (Sterbenlassen) kaum zu begründen ist.
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J.Hoff/J. in der Schmitten:
Kritik der Hirntodkonzeption
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