Home - Religionskritik
 Antworten christlicher Theologie

Aufklärung, Religionskritik und christlicher Glaube
 
Die Theologin und Schriftstellerin  Dorothee Sölle (1929-2003) greift die Metapher vom "Tod Gottes" auf, allerdings nicht als Abkehr vom Christentum, sondern als Verzicht auf ein überholtes Gottesbild. In einem weiteren Text entwickelt sie die These dass, Jesus Christus den abwesenden Gott vertreten muss.

 
"Wenn Jesus heute wiederkäme wäre er Atheist, d.h. er könnte sich auf nichts anderes als auf 
seine weltverändernde Liebe verlassen." (D. Sölle: Gibt es ein atheistisches Christentum? , S. 84)

 
"...Wir müssen die Voraussetzungen, die Menschen zu so etwas wie Glauben bringen können, etwas genauer klären und zunächst versuchen, die Religion zu verstehen als einen Akt der Kreativität, in dem Menschen das tun, was sie in aller Kultur tun: sich die Welt aneignen, die Natur humanisieren, das Schicksal als den fremden, feindlichen Gott überwinden. Das religiöse Bedürfnis ist das Bedürfnis, Sinn zu erfahren und Sinn zu stiften. Es gibt keine Existenz ohne die Suche nach Sinn...Im religiösen Akt setzen Menschen den Sinn gegen die Sinnlosigkeit, das Ganz-Sein gegen die Zerstückelung, den Mut zu sein gegen die Angst..."

D. Sölle - Der Wunsch, ganz zu sein

"In Variation eines Satzes von Freud: "Wo Es war, soll Ich werden" lässt sich sagen: Wo die Fremde, der Zufall und das Nichts waren, soll Heimat, Identität und Gott sein. Das Wort "Gott" bedeutet dann nicht mehr eine in einer zweiten Welt beheimatete Übermacht, die von außen in unsere Welt eingriffe. Es bedeutet nicht mehr einen zweiten Raum, den Himmel, eine zweite Zeit, nach dem Tode, eine zweite Art von einem unsterblichen allmächtigen Wesen, das uns als Person gegenübersteht. Wohl aber benötigen wir das Wort "Gott", um die noch nicht erreichte Totalität unserer Welt, die noch nicht erschienene Wahrheit unseres Lebens auszudrücken. In diesem Sinn lässt sich sagen, dass jeder Mensch die Frage, ob er an Gott oder an das Nichts an den Sinn seines Lebens oder an die absolute Sinnlosigkeit glaubt, immer schon in seinem Leben entschieden hat..."(ebd.)
 


Auszug aus einem  "Spiegel"- Gespräch aus dem Jahr 1970
(mit G. Gaus)

"...
GAUS: Bei Ihrer Behauptung, Frau Sölle, Gott ist tot, was für Sie freilich keine Abkehr vom Christentum zur Folge hat, sondern gerade eine neue Hinwendung zu Christus, bei Ihrer Behauptung also vom toten Gott gehen Sie davon aus, dass Gott früher für die Menschen die Lücke in der Unerklärbarkeit der Welt, der Natur und in den schicksalhaften Abhängigkeiten gefüllt hat. Ist das richtig als Definition?

SÖLLE: Ja, das könnte man sagen, dass Menschen Gott angerufen haben in sehr vielen Problemen und Nöten, die durch die technische Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit der Produktionsverhältnisse hergestellt waren.

GAUS: Und in dieser Not, sich mit einem Schicksal konfrontiert zu sehen, dessen Herkunft man nicht kannte, bedurften sie Gottes.

SÖLLE :Ja.

GAUS: Soweit richtig
SÖLLE: Soweit mit Feuerbach und Karl Marx richtig.

GAUS: Gut. Wenn Sie einräumen, dass Gott seine Funktion verloren hat, weil die Welt und ihre sozialen Abhängigkeiten nach Ihrer Meinung erklärbar geworden sind, besteht dann nicht die Gefahr einer schrecklichen Verkennung darüber, wieweit in Wahrheit die Welt noch immer für die meisten Menschen an ihren Abhängigkeiten ganz unerklärbar ist, und ist also nicht Ihre Theologie eine Theologie für die Aufgeklärten, für die, die ohnehin schon auf der Sonnenseite des Lebens sind?

SÖLLE: Ach nein, das scheint mir eigentlich eine Verkennung von dem, was Theologie überhaupt ist. Theologie zieht ja Menschen in einen Aufklärungsprozess hinein. Christus hat die Menschen aufgeklärt darüber, was Sünde ist, was verfehltes Leben ist, was Glück ist, was Heil ist, und diesen Prozess beschreiben Sie jetzt als etwas sehr statisch, indem Sie einfach zwei Gruppen konstatieren.

GAUS: Glauben Sie an die Veränderbarkeit des Menschen? Kann man den Menschen bessern, kann man ihn anders machen, als er ist?

SÖLLE: ja. ... ich halte diese Frage für wirklichen Atheismus. Wer so fragt, oder wer meint, dass der Mensch unveränderlich sei, der glaubt wirklich nicht an Gott. Das biblische Wort für das, was wir heute Veränderung nennen, heißt ja Erlösung. Und eigentlich haben Sie mich eben gefragt, glauben Sie, daß der Mensch erlöst werden kann. Und wie sollte ich dazu "Nein" sagen können?..."
 (Aus : W. Trutwin , Hrsg.,Gespräch mit dem Atheismus, Göttingen 1970, S.87f)




 
 

Stellvertretung

"... Alle bisher bekannten Formen der christlichen Religion setzen ein unmittelbares Verhältnis zu Gott voraus und sind daher in dem Augenblick bedroht, wo Gott als moralische, politische und naturwissenschaftliche Arbeitshypothese unnötig geworden ist. Sie werden ausgehöhlt in dem Augenblick, da Schicksalsschläge den Menschen nicht mehr naturhaft unvermittelt treffen, und von der Zeit an, da die urtümliche Erfahrung, dass der Mensch an die Mächte der Natur ausgeliefert ist, durch Medizin, Welthandel und eine mindestens der Theorie nach rationale Planung politischer Veränderungen zurückgedrängt und abgeschwächt wird.

Die Religion wird ausgehöhlt, weil Gott in der technisierten Welt mit wachsender Geschwindigkeit Terrain verliert. Es entsteht der Eindruck, als sei Gott arbeitslos geworden, weil ihm die Gesellschaft einen Lebensbereich nach dem andern abnimmt. Man kann sagen, dass im Zuge der westeuropäischen Aufklärung die Selbstverständlichkeit Gottes für die ganze Welt zerstört wird. Unmöglich geworden ist der naive Theismus, das unmittelbare kindliche Verhältnis zum Vater droben überm Sternenzelt, unmöglich auch die unmittelbare religiöse Gewissheit, was freilich nicht dazu verführen sollte, vom Ende der Religion überhaupt zu sprechen. Jede metaphysische "Setzung" Gottes, die das "größte neuere Ereignis: dass Gott tot ist" (Nietzsche) nicht bemerkt, weil sie sich simpel darauf beruft, dass Gott lebendig sei, bleibt der Privatheit bestimmter religiöser Anlagen oder  Erfahrungen verhaftet.

Erst in dieser Lage des Bewusstseins im nachtheistischen Zeitalter kann der Gedanke, dass Christus den abwesenden Gott bei uns vertritt, sein Gewicht gewinnen. Erst wenn die Selbstverständlichkeit Gottes dahin ist, leuchtet das Wunder Jesu von Nazareth auf: dass ein Mensch Gott für andere in Anspruch nimmt, indem er ihn vertritt. Die Herausforderung, die der Tod Gottes darstellt, kann auf zwei verschiedene Weisen beantwortet werden, ähnlich wie andere Verluste, die wir erfahren: entweder man nimmt Gottes Abwesenheit als seinen Tod und sucht oder schafft sich Ersatz, oder aber man nimmt seine Abwesenheit als eine Möglichkeit seines Seins-für-uns. Unbesetzt bleibt die Rolle Gottes in keinem Falle. Es ist evident, wie die Gesellschaft mittels ihrer Rationalität und Lebenstechnik im weitesten Sinn des Wortes hervorragende Funktionen des früheren Gottes übernommen hat und wie sie durchaus in der Lage ist, diese einst von Gott getragenen Funktionen zu erfüllen, vermutlich in einigen Bereichen, wie Welterklärung, Krankenheilung, Katastrophenschutz, eher besser als der so oft vergeblich angeflehte Gott von einst. Ebenso evident ist aber die Lückenhaftigkeit des Gottesersatzes, den die Gesellschaft bietet. Sie vermag ein immer wieder neu überschießendes religiöses Bedürfnis, das nach Sinn und Wahrheit des Lebens, nach Identität der Person und nach dem Reich dieser Identität fragt, nicht zu befriedigen. Diese bleibende Fraglichkeit einer absurden Situation zwischen Sinnlosigkeit und Sinnverlangen nötigt uns zu der Inkonsequenz: dass Gott vertreten werden muss.

Die Abwesenheit Gottes kann verstanden werden als eine Weise seines Seins-für-uns. In diesem Fall ist man darauf angewiesen, dass einer den unersetzlichen Gott vertritt. Damit verschiebt sich Nietzsches Aussage, dass Gott tot sei, zu einem "Gott muss vertreten werden" - ein Gedanke übrigens, der Nietzsche, der von den "Häutungen Gottes" zu reden weiß, nicht so fern liegt. Gott muß vertreten werden heißt: Gott ist - jetzt - nicht da. Es klingt unseren, den naiven Anthropomorphismen entwöhnten Ohren einigermaßen anstößig, wenn wir von Gott sagen, dass er krank, verreist oder unfähig sei. Aber so absurd ist solche Rede nicht, weil sie, ähnlich wie Bubers Ausdruck von der "Gottesfinsternis", die Herausforderung annimmt, die darin liegt, dass Gott jetzt, in dieser Weltzeit, nicht gegenwärtig und unmittelbar zu erfahren ist.

Christus vertritt den abwesenden Gott, solange dieser sich nicht bei uns sehen lässt. Vorläufig steht er für Gott ein, und zwar für den Gott, der sich nicht mehr unmittelbar gibt und uns vor sein Angesicht stellt, wie es die religiöse Erfahrung früherer Zeiten als erlebt bezeugt. Christus hält diesem jetzt abwesenden Gott seine Stelle bei uns offen. Denn ohne Christus müssten wir dem Gott, der sich nicht zeigt und der uns verlassen hat, "kündigen", wir hätten keinen Grund, weiter auf ihn zu warten oder ihn nicht für tot zu erklären. Wir könnten unser Einverständnis aussprechen, Ersetzbare zu sein, wir könnten uns nach Analogie von Maschinenteilchen in der Gesamtstruktur der Gesellschaft verstehen. Wenn in Christus nicht das Bewusstsein der unteilbaren Freiheit aller aufgegangen wäre - und Freiheit ist der neutestamentliche Name für Identität -, so könnte die Frage nach der Identität verstummen, die der Stellvertreter Gottes doch so gestellt hat, dass sie nun nicht mehr überhört werden kann. Weil Christus eine neue Art dazusein in der Welt aufgebracht hat, darum kann Hoffnung nicht mehr aufgegeben werden - die Stellvertretung Christi ist ihre transzendentale Ermöglichung..."

D. Sölle, Stellvertretung, Stuttgart 1965, S.135 ff.




Religion und Religionskritik - Dorothee Sölle
(nach "Ethik im Unterricht")

1. Jeder Mensch hat ein religiöses Bedürfnis, nämlich den Sinn des Lebens zu finden.

2. Das traditionelle Gottesbild wird durch Jesus abgelöst, der für den Menschen an sich steht.

3. Der Mensch ist veränderlich und kann durch diese Eigenschaft auch erlöst werden.

4. Religion ist der Versuch, nichts in der Welt als menschenfeindlich, schicksalhaft, 
sinnlos anzunehmen, sondern alles, was begegnet, zu verwandeln, es einzubeziehen in die eigene menschliche Welt. 


Home - Religionskritik
Übersicht Religionskritik

zurück