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 Antworten christlicher Theologie

D. Sölle

Dorothee Sölle

Der Wunsch, ganz zu sein

"...Aber was ist eigentlich der Inhalt dieses religiösen Bedürfnisses? Wonach sehnen sich Menschen? Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben. Das alte Wort der religiösen Sprache »Heil« drückt genau dieses Ganz-Sein, Unzerstückt-Sein, Nicht-kaputt-Sein aus. Dass die kaputten Typen - und wer rechnet sich nicht zuzeiten dazu? - den Wunsch haben, ganz zu sein, ist nur verständlich. Es ist zugleich der Wunsch nach einem Leben ohne Berechnung und ohne Angst, ohne äußere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne Absicherung. Vertrauen können, hoffen können, glauben können alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und eben um dieses Glück des Ganz-Seins geht es in der Religion...

Ich halte diesen Wunsch, dieses religiöse Bedürfnis für unaufgebbar, auch wenn es schwer ist, darüber zu sprechen. Ernst Bloch nennt das, was ich meine, »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«. Die Sehnsucht nach Heimat ist die nicht-private Formulierung desselben Wunsches, ganz zu sein. Blochs Formulierungmacht deutlich, wie nahe die Religion der Sentimentalität steht. Aber die Angst vor Sentimentalität ist kein Grund, die Sehnsucht nach Heimat zu verdrängen. Die Angst, nicht aufgeklärt zu erscheinen, ist kein Grund, sich selber in seinen Wünschen zu verstümmeln. Die Schwierigkeit liegt nur darin, dass Bloch wohl nicht recht hat darin, dass da »allen« etwas in die Kindheit scheine; offenbar gibt es Sozialisationsbedingungen, die diesen Schein so systematisch abblenden, dass die große Heimatsuche und Hoffnung, die wir Religion nennen, nicht in Gang kommt. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich das Fehlen dieses Scheins für eine Verstümmelung der Menschen halte, die sich in den Heranwachsenden und Erwachsenen bitter rächt: in der Unfähigkeit zu wünschen, in der Armut der Expression, in der zweckrationalen Verhaftung an eine Alltäglichkeit, die kein Transzendieren erlaubt.

Wir müssen die Voraussetzungen, die Menschen zu so etwas wie Glauben bringen können, etwas genauer klären und zunächst versuchen, die Religion zu verstehen als einen Akt der Kreativität, in dem Menschen das tun, was sie in aller Kultur tun: sich die Welt aneignen, die Natur humanisieren, das Schicksal als den fremden, feindlichen Gott überwinden. Das religiöse Bedürfnis ist das Bedürfnis, Sinn zu erfahren und Sinn zu stiften. Es gibt keine Existenz ohne die Suche nach Sinn. Gerade weil ich den Sinn und das Ganz-Sein nicht finde, sondern mich immer wieder am Sinnlosen, am Absurden, am Nicht-Deutbaren verletze, darum kann es mir nicht genügen, mich als ein Objekt zu verstehen, das in deterministische Ketten gelegt ist. Im religiösen Akt setzen Menschen den Sinn gegen die Sinnlosigkeit, das Ganz-Sein gegen die Zerstückelung, den Mut zu sein gegen die Angst...

Religiosität ist in diesem Verständnis zwar auch aus dem Mangel geboren, aber nur aus dem, der den eigentlichen Reichtum des Menschen ausmacht. Die nicht-religiöse Haltung schließt ein gewisses Maß an Resignation, an Einsicht in das Verwirklichbare, das heißt aber auch an Unterwerfung in die natürlichen Notwendigkeiten ein. Der Mensch ohne alle Religion ist leichter zufrieden zu stellen. Er ist »vernünftiger«, weil er ein so großes Ziel - wie das Ganz-Sein, das nicht-zerstückte Leben - erst gar nicht ersehnt. Die Auffassung des Marxismus, dass die Religion mit der Abschaffung von materiellem Mangel, von Ausbeutung und Unterdrückung von selbst verschwinde, setzt nicht nur ein entfremdetes Verständnis von Religion voraus, sondern ist selbst eine entfremdete Verkürzung der Wirklichkeit des Menschen, die ihn verleugnet eben in seiner Fähigkeit zu träumen, sich auszudrücken und sich zu verwirklichen. Ein konsequent nicht-religiöses Denken rechtfertigt als vernünftig nur das, was auf Zwecke geht. . . Das religiöse Bedürfnis ist das Bedürfnis nach erfahrenem Sinn, die Sehnsucht nach versprochener und sichtbar werdender Wahrheit. Religion ist der Versuch, nichts in der Welt als fremd, menschenfeindlich, schicksalhaft, sinnlos anzunehmen, sondern alles, was begegnet, zu verwandeln, es einzubeziehen in die eigene menschliche Welt. Alles soll so gedeutet werden, dass es »für uns« wird. Alles Starre soll biegsam, alles Zufällige notwendig, alles sinnlos Scheinende als wahr und gut geglaubt und gedacht werden. Religion ist der Versuch, keinen Nihilismuszudulden und eine unendliche (endlich nicht widerlegbare) Bejahung des Lebens zu leben.

In Variation eines Satzes von Freud: »Wo Es war, soll Ich werden« lässt sich sagen: Wo die Fremde, der Zufall und das Nichts waren, soll Heimat, Identität und Gott sein. Das Wort »Gott« bedeutet dann nicht mehr eine in einer zweiten Welt beheimatete Übermacht, die von außen in unsere Welt eingriffe. Es bedeutet nicht mehr einen zweiten Raum, den Himmel, eine zweite Zeit, nach dem Tode, eine zweite Art von einem unsterblichen allmächtigen Wesen, das uns als Person gegenübersteht. Wohl aber benötigen wir das Wort »Gott«, um die noch nicht erreichte Totalität unserer Welt, die noch nicht erschienene Wahrheit unseres Lebens auszudrücken. In diesem Sinn lässt sich sagen, dass jeder Mensch die Frage, ob er an Gott oder an das Nichts, an den Sinn seines Lebens oder an die absolute Sinnlosigkeit glaubt, immer schon in seinem Leben entschieden hat...

Die christliche Antwort auf das unendliche Bedürfnis ist sozial, ist politisch. Der Sinn des Ganzen, die Aufhebung des Nihilismus, die Motivation für das Leben werden nicht im Eingehen des Individuums in das Ur-Eine gefunden, der Sinn ist nicht erfüllt im Eingehen der Seele in Gott, sondern der Sinn wird in die Interaktion gelegt. »Gott ist Liebe« ist die christliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn, und dieser allgemeine Satz findet seine Konkretion in den geschichtlichen Erfahrungen der Befreiung. Glaube als Anteilhaben an dieser Sinndeutung ist ein unendliches Ja, das alle Formen des Lebendigen einschließt und Einheit unter ihnen stiftet. Je umfassender das Ja, desto größer die Nähe zu den Menschen; die Solidarität ist der menschlichste Ausdruck der Gottesliebe.

Natürlich läßt sich dieser Satz kritisieren. Man kann einwenden: Die Solidarität ist nicht irgendein Ausdruck von etwas anderem, sondern die Solidarität ist die Solidarität und nichts anderes. Aber der Hinweis auf die Liebe zu Gott soll nicht eine Begründung sein, sondern gerade die Abweisung aller Begründung. Die Solidarität wird, so verstanden, zu einem absoluten Wert, der unmittelbar auf unser unstillbares Verlangen nach Sinn und Wahrheit antwortet. Jesus ist als der Mensch für andere Sohn Gottes in genau dem Sinn, in dem wir auch Söhne und Töchter Gottes sind. Wir können unsere Sache nicht zweckrational relativieren. Der Kampf gegen das als schicksalhaft ausgegebene Unglück, das eine bestimmte Gruppe, Rasse oder Klasse trifft, ist die Fortsetzung des Kampfes Jesu; Wundertun gegen die Beschädigungen, die wir vorfinden und die als fatal hingenommen werden, ist noch das mindeste. Wir werden Menschen sein, so ist uns versprochen - aber nur miteinander. Die Solidarität ist die christliche Antwort auf den Wunsch der Menschen, nicht zerstört, nicht maschinisiert, nicht in bloßen determinierten Wiederholungszwängen zu leben. Die Solidarität wäre zu klein verstanden, wo man versuchte, sie wissenschaftlich - etwa aus dem Gang der Geschichte - abzuleiten und sie somit denen zu versagen, die nicht auf der Siegerseite stehen. Der Ausdruck »Gottesliebe« weist auf den Wunsch des Menschen nach Sinn, auf sein Bedürfnis nach Totalität.

Das für unsere Kultur relevante Symbol der Einheit von Gottesliebe und Solidarität ist Christus. Leben wie Christus gelebt hat, »gesinnt sein wie er war« (Phil2, 5) bedeutet die konsequente Weigerung, die Gottheit »Fatum«, die uns einredet, »so ist es eben, so war es immer«, an irgendwelchen Stellen des Lebens weiter anzubeten. Es bedeutet die Hinreise zur Entäußerung und Hingabe des Ich und die Rückreise mitten in diese Welt. Es bedeutet sterben lernen und auferstehen. Statt auferstehen können wir auch sagen: die Rückreise aus einer Art Tod in das Leben antreten.
 

Dorothee Sölle, Der Wunsch, ganz zu sein, in: Die Hinreise, Stuttgart 1975, 167-185 (in Auszügen)


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