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Die Zukunft der Religion
 
Paul Tillich (1886-1965), einer der interessantesten protestantischen Theologen des 20.Jhds., entwickelt (inspiriert durch religionskritische und tiefenpsychologische Arbeiten) einen Religionsbegriff, der den wenig sinnvollen Gegensatz von Glaube und Wissen überwindet.
Die "Dimension der Tiefe" im Leben spielt bei ihm eine entscheidende Rolle.

 
 Die Zukunft der Religion

Die Rede von der "Zukunft der Religion" erfüllt mich mit tiefem Unbehagen. Denn die Zukunft der Religion bedenken setzt voraus, dass die Religion ein historisches Phänomen sei, mit oder ohne Zukunft, mit längerem oder kürzerem Leben und mit der Möglichkeit ihres Untergangs oder ihrer Auflösung in andere Phänomene. Eine solche Auffassung der Religion ist theoretisch möglich, ebenso wie es möglich ist, den Menschen als einen Mechanismus, der automatisch auf Reize reagiert, zu betrachten und ihn entsprechend zu behandeln. Aber der Mensch setzt sich gegen diese Verleugnung seines Wesens und seiner Würde zur Wehr.

Ebenso muss sich die Religion gegen die Verkennung ihres Wesens wehren, die in der Rede von der "Zukunft der Religion" enthalten ist. Denn das Wesen der Religion besteht gerade darin, dass sie die zeitlichen Formen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft transzendiert.

Der Religion als lebendiger Erfahrung geht es nicht um ihre eigene Zukunft, sondern um ihren Inhalt (und um unser Verhältnis zu ihm); und dieser Inhalt ist das Ewige. Innerhalb der Geschichte ist eine Vergangenheit oder Zukunft unvorstellbar, in der der Mensch nicht nach dem Sinn seines Lebens fragte, das heißt aber in der er ohne Religion lebte; denn in dieser Frage drückt sich das Wesen des Menschen aus. Der Mensch braucht diese Frage nicht bewusst zu stellen; er kann sie sogar unterdrücken und ihr aus dem Wege gehen aus Angst vor der Erschütterung, die das Ergriffensein von dem Unbedingten auslöst. Er kann das Unbedingte in mystischen, symbolischen oder dichterischen Bildern oder in theologischen, philosophischen oder politischen Begriffen ausdrücken. Er kann religiöse Symbole im engeren wörtlichen Sinn vermeiden, aber er kann nicht ohne Religion in ihrer tieferen, universellen Bedeutung existieren. Religion in diesem Sinn lebt, solange der Mensch lebt; sie kann aus der menschlichen Geschichte nicht verschwinden, denn die Geschichte ohne Religion wäre nicht mehr menschliche Geschichte . . .

Das Problem der Zukunft der Religion ist nicht mehr das Verhältnis von Religion und Wissenschaft. Auch in dieser Hinsicht ist mit dem Beginn des Jahrhunderts eine Epoche zu Ende gegangen. Die Autonomie der historisch-kritischen Forschung, der Naturwissenschaft und der Psychologie wird heute von der herrschenden protestantischen Theologie unbeschränkt anerkannt. Ebenso hat die Wissenschaft gelernt, ihre vorwissenschaftlichen Voraussetzungen und ihre philosophischen Grundlagen von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterscheiden. Beide Seiten haben erkannt, dass die Symbole, in denen die Religion Wahrheit ausdrückt, auf einer anderen Ebene liegen als wissenschaftliche Feststellungen über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von natürlichen Objekten. Die Religion der Zukunft wird frei sein von dem sinnlos gewordenen Konflikt zwischen Glauben und Wissen.

(Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit.  Hamburg 1962, S. 92 f., S. 99)

 
Aufgaben:
 
  • Was meint Tillich mit dem letzten Satz des Textes?
  • Welche Aufgabe käme der Religion der Zukunft zu ?
  • Vergleichen Sie seine Position mit der von Horkheimer, Drewermann und der Stellungnahme der EKD

  •   "Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert" !
       

    Weitere Textausschnitte von P.Tillich sollen seine Position verdeutlichen

     

    Paul Tillich

    Religion - Dimension der Tiefe

    Das entscheidende Element in der gegenwärtigen Situation des westlichen Menschen ist der Verlust der Dimension der Tiefe. "Dimension der Tiefe" ist eine räumliche Metapher - was bedeutet sie, wenn man sie auf das geistige Leben des Menschen anwendet und sagt, dass sie ihm verlorengegangen sei? Es bedeutet, dass der Mensch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren hat, die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod . . . Unsere Generation hat keinen Mut mehr, solche Fragen mit unbedingtem Ernst zu stellen, wie es frühere Generation taten, und sie hat auch keinen Mut mehr, auf irgendwelche Antworten auf diese Fragen zu hören. Ich beabsichtige, die Dimension der Tiefe im Menschen als seine "religiöse Dimension" zu bezeichnen. Religiös sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern. Eine solche Auffassung macht die Religion zu etwas universaI MenschIichem, wenn sie auch von dem abweicht, was man gewöhnlich unter Religion versteht. Religion aIs Tiefendimension ist nicht der Glaube an die Existenz von Göttern, auch nicht an die Existenz eines einzigen Gottes. Sie besteht nicht in Handlungen und Einrichtungen, in denen sich die Verbindung des Menschen mit seinem Gott darstellt. Niemand kann bestreiten, dass die geschichtlichen Religionen "Religion" in diesem Sinne sind. Aber Religion in ihrem wahren Wesen ist mehr als Religion in diesem Sinne: Sie ist das Sein des Menschen, sofern es ihm um den Sinn seines Lebens und des Daseins überhaupt geht . . .
    Wenn wir Religion als das Ergriffensein von einem letzten, unbedingten Anliegen verstehen, müssen wir eingestehen, dass der typische moderne Mensch sich keines solchen Anliegens bewusst ist. Was man für ein Wiederaufleben der Religion gehalten hat, ist der oft verzweifelte und meist vergebliche Versuch, das Verlorene wiederzugewinnen . . .

    (Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit. Hamburg 1962, S. 8 ff.)


    Die Religion ist keine spezielle Funktion, sie ist die Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens ... Was bedeutet diese Metapher der Tiefe? Sie bedeutet, dass die religiöse Dimension auf dasjenige im menschlichen Geistesleben hinweist, das letztlich, unendlich, unbedingt ist. Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes . . .
    Man kann die Religion nicht mit letztem Ernst verwerfen, weil der ,Ernst oder das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, selbst Religion ist. Die Religion ist die Substanz, der Grund und die Tiefe des menschlichen Geisteslebens. Das ist die religiöse Dimension des menschlichen Geistes.

    (Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit.  Hamburg 1962, S. 23 ff.)


    Religion ist wie alles Menschliche zugleich groß und tragisch. Und da sie Ausdruck dessen ist, was uns unbedingt angeht, ist sie größer und tragischer als alles andere.
    Sie öffnet die Tiefe des menschlichen Geisteslebens, die zumeist vom Staub unseres Alltagslebens und vom Lärm unserer profanen Arbeit verdeckt ist. Die Religion lässt uns das Heilige erfahren, etwas, das unberührbar, Ehrfurcht gebietend, letzter Sinn, Quelle des höchsten Mutes ist. Das ist die Größe dessen, was wir Religion nennen. Aber neben ihrer Größe liegt ihre Schande. Sie macht sich selbst zu dem Höchsten und verachtet den profanen Bereich. Sie macht ihre Mythen und Lehren, ihre Riten und Gesetze zu etwas Letztem, Unbedingtem und verfolgt jene, die sich ihnen nicht unterwerfen. Sie vergisst, dass sie ihre eigene Existenz dem Faktum zu verdanken hat, dass der Mensch seinem wahren Sein tragisch entfremdet ist. Sie vergisst ihren Ursprung aus der Not. Das ist der Grund für die leidenschaftliche Reaktion der profanen Welt gegen die Religion, eine Reaktion, die für den profanen Bereich selbst tragische Folgen nach sich zieht. . . Die Konflikte zwischen dem Religiösen und dem Profanen können nur dann überwunden werden, wenn dies verstanden wird, und nur dann hat die Religion ihren wahren Ort im Geistesleben des Menschen wiederentdeckt, nämlich in der Tiefe. Und aus dieser Tiefe gibt sie allen Funktionen des menschlichen Geistes Substanz, letzten Sinn, Gericht und schöpferischen Mut.

    (Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit. Hamburg 1962, S. 28 f.)



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