Evangelische Kirche in Deutschland

EKD-Texte und Erklärungen, März 1999
 

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Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert

1. Religion

Die Erwartung des Absterbens der Religion hat sich als Illusion erwiesen. Religion als Verhalten des endlichen Menschen zum transzendenten Grund seiner Existenz ist eine elementare Dimension jeder Kultur. Auch der christliche Glaube manifestiert sich unweigerlich in der Form menschlicher Religion, auch wenn sich das Christentum von seinen Ursprüngen her stets als selbstreflexive und selbstkritische Religion verstanden hat. Der Protestantismus, der sich in besonderer Weise den religionskritischen Potentialen der biblischen Tradition verpflichtet weiß, steht heute vor der Aufgabe, eine angemessene Balance zwischen Pflege und Kritik religiöser Ausdrucksformen zu finden.

(1.1.) In unserer vermeintlich aufgeklärten und säkularisierten Gesellschaft geht die institutionelle Schwächung der Kirchen und der Verlust des Deutungsmonopols des Christentums keineswegs mit einem Desinteresse an Religion und religiöser Erfahrung einher. Parallel zur fortschreitenden Entkirchlichung und zum Rückgang kirchlicher Glaubenspraxis nimmt die Präsenz religiöser Phänomene im Alltag zu. Diese "Alltagsreligion" weist nicht nur Spuren der explizit christlichen Religion auf; in ihr finden sich verstärkt Phänomene säkularen Religionsersatzes und diffuser, vagabundierender Religiosität.

In seiner Funktion als ersatzreligiöse Sinnstiftung hat der Sport an Bedeutung gewonnen. Der Körper wird zur Quelle von Grenzerfahrungen, das Stadion zur Kultstätte, und die Fangemeinde erlebt sich in tiefer Kommunion. Voller religiöser Botschaften ist auch die Werbung. Sie verwendet nicht nur religiöse Zeichen; sie macht Heilsversprechen, die das Bedürfnis nach Sinndeutung aufgreifen. Da steht beispielsweise ein Mann fragend am Abgrund: "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und warum weiß mein Auto die Antwort?" In Kunst und Kulturindustrie sind ebenfalls religiöse Züge erkennbar. Menschen pilgern zu Ausstellungen; Konzertsäle, Theater und Museen gewinnen eine sakrale Aura. Musicals handeln von der Sehnsucht nach Lebenssinn ("Cats", "Starlight Express") oder greifen biblische Stoffe auf ("Joseph").

Zum andern ist die religiöse Landschaft in den letzten Jahren zunehmend geprägt von diffuser Religiosität und von Alltagssynkretismen, die je nach individueller Bedürfnislage zusammengesetzt werden. Religion wird als Dimension nichtentfremdeter Selbsterfahrung und als Möglichkeit der Wiederherstellung des Einklangs mit der Natur entdeckt. Auf dem Esoterik-Markt findet sich eine breite Palette von Angeboten: von Astrologie, Wahrsagen und Tarot über Vodoo, Magie und Geistheilen bis hin zu fernöstlichen Meditationspraktiken und religiös verbrämten Therapien.

(1.2.) Dieser kurze Blick auf alltagsreligiöse Phänomene provoziert die Frage: Was ist Religion? Eine Definition des Religionsbegriffs, die nicht nur die unterschiedlichen Hochreligionen, sondern auch die vielfältigen neu-, halb- und ersatzreligiösen Phänomene umfasst, ist schwierig. Vielleicht kann man aber von folgender Überlegung ausgehen: "Religion ist das, was uns unbedingt angeht" (P. Tillich). Religion ist das Verhalten des endlichen Menschen zum transzendenten Grund seiner Existenz. Als religiös bezeichnen wir Erfahrungen und Überzeugungen von letztgültiger lebensbestimmender Relevanz. Religion manifestiert sich in symbolischer Deutung und ritueller Darstellung. Unter den verschiedenen Funktionen von Religion seien drei hervorgehoben:

  • Religiöse Deutungen ermöglichen es, eine Beziehung zur Unverfügbarkeit menschlichen Lebens aufzubauen. Religion antwortet auf Kontingenzerfahrungen: Ihr Stoff ist das unvorstellbare Glück, die unausweichliche Schuld, die schockierende Gewalt, der plötzliche Tod, das sinnlose Leid.
  • Religiöse Symbole, Riten, Feste usw. haben eine soziale Integrationsfunktion, sie sind bedeutsam für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Legitimation bzw. Rechtfertigung bestehender Gemeinschaftsformen.
  • Religiöse Erfahrung ist Transzendenzerfahrung, sie übersteigt die Grenze des Profanen zum Heiligen. Im Kontakt mit dem Heiligen wird die vorhandene Wirklichkeit ekstatisch überschritten, die alltägliche Langeweile durchbrochen.
  • Dabei lässt sich Religion von Ersatzreligion dadurch unterscheiden, dass sie erstens mehrere solcher Funktionen zugleich erfüllt und dass sie zweitens den Gegensatz zwischen Transzendenz und Immanenz, Heiligem und Profanem nicht aufhebt, sondern vermittelt.

    (1.3.) Religion im umschriebenen Sinn ist eine Dimension jeder Kultur. Die teils christlich, teils antichristlich motivierte Prognose, wir gingen einem religionslosen Zeitalter entgegen, hat sich nicht erfüllt. Dennoch behält der Vorbehalt gegenüber einer einfachen Gleichsetzung von christlichem Glauben und Religion ein unaufgebbares Recht:

    Erstens deshalb, weil Religion lediglich ein Allgemeinbegriff ist. Gerade in einer kulturell-pluralen Gesellschaft wird erfahrbar: "Die" Religion gibt es nicht. Mit ihr verhält es sich ähnlich wie mit der Sprache: Es gibt sie nur im Plural. Die Sprache kann niemand sprechen, man kann sich in ihr auch nicht verständigen. Die Religion kann man nicht leben und sich nicht mit ihr streiten. Unter Bedingungen eines wachsenden religiösen Pluralismus tendiert der Religionsbegriff zur Inhaltslosigkeit, jedenfalls leitet er zunehmend zu einer neutralen Beobachterperspektive an. Es können unter diesem Titel nur möglichst allgemeine, allen religiösen Phänomenen gemeinsame Merkmale in den Blick kommen, nicht der Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion.

    Zum andern hat der biblisch inspirierte Gottesglaube immer die Zweideutigkeiten der Religion aufgedeckt; sie kann unterdrücken und befreien, zerstören und heilen. Die prophetische Kultkritik, die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihren humanen Zweck, die Unterbrechung der zyklischen Zeiterfahrung in Jesu Verkündigung des nahen Reiches Gottes, die urchristliche Deutung des Gekreuzigten als Selbsthingabe Gottes und als endgültige Aufhebung des sakralen Opfermechanismus - dies sind nur einige zentrale Motive biblischer "Gegen-Religion", die zum christlichen Selbstverständnis gehören. Die neuzeitliche Religionskritik hatte nicht darin Unrecht, dass sie unter anderen auch diese Motive gegen die herrschende bürgerlich-christliche Kultur zur Geltung gebracht hat. Im Irrtum befand sie sich dort, wo sie glaubte, es seien Verhältnisse herstellbar, in denen es der Religion als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren nicht mehr bedarf.

    (1.4.) Christlicher Glaube ist die bestimmte, durch Jesus von Nazareth eröffnete und durch seinen Geist gewirkte Beziehung zu Gott. Selbstverständlich bedarf auch dieser Glaube des religiösen Ausdrucks, der festlichen Darstellung und der kulturellen Form. Die Neuentdeckung der liturgischen und rituellen Ausdrucksformen des Glaubens in den evangelischen Kirchen ist wichtig. In den Kirchen arbeiten daran insbesondere Frauen und möchten damit dem als kopflastig erlebten Christentum seine Erfahrbarkeit zurückgeben. Der Protestantismus unterscheidet allerdings mit besonderem Nachdruck jede Form der Gotteserfahrung und alle Praktiken der Gottesverehrung (inclusive seiner eigenen) von Gott selbst. In besonderer Weise hat das protestantisch geprägte Christentum die "gegen-religiösen" Potentiale der biblischen Tradition in sich aufgenommen; es steht von daher im Wandel der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen vor der unabschließbaren Aufgabe, die richtige Balance zwischen Pflege und Kritik, Gestaltung und Begrenzung religiöser Ausdrucksformen zu finden.

    (1.4.1.) Auf der individuellen Ebene scheint mit dem Bedürfnis nach vertiefter Selbsterfahrung ein Zentralproblem moderner Religiosität angesprochen zu sein. Der christliche Glaube kennt durchaus das Motiv der innerlichen Erfahrbarkeit Gottes, der uns sogar näher kommt als wir uns selbst. Das Christentum deutet diese erfahrbare Nähe Gottes als Wirken seines Geistes in uns. Es weiß, dass der Geist Gottes und Jesu Christi "weht, wo er will". Niemand kann über ihn verfügen; er ist kein institutioneller Besitz, sondern wirkt weit über das verfasste Christentum hinaus. Spiritualität, Selbsterfahrung als Erfahrung des Geistes hat es immer auch außerhalb der Kirchen gegeben. Es war der neuzeitliche Protestantismus, der ein Verständnis von Religiosität entwickelt hat, das die Frage nach Gott mit der rückhaltlosen Thematisierung von Selbst und Individualität verbindet. Heute erscheinen gerade religiös sensiblen Menschen Psychotechniken, fernöstliche Meditationsformen und Esoterik attraktiv, weil sie in den Kirchen keine Orte geistlicher Selbsterfahrung mehr sehen. Viele wollen sich damit keineswegs vom Christentum verabschieden; die selbsterfundene "Bastelreligion" lässt sich aber besser auf die eigenen, individuellen Lebensbedürfnisse zuschneiden. Die Kirche schreibt dem Geist sein Wirken nicht vor, unterscheidet aber die Geister. Oft genug führt die Zuwendung zur neureligiösen Szene in massiven Aberglauben, destruktive Weltverneinung, blinde Gefolgschaft und psychische Abhängigkeit. Der Protestantismus hat sicherlich Anlas, sich stärker für die reichen Traditionen genuin christlicher Spiritualität zu öffnen; solange er seinem reformatorischen Ursprung und seinem neuzeitlichen Profil treu bleibt, wird er aber immer die Lebensform eines aufgeklärten, nüchternen und reflektierten Glaubens verkörpern.

    (1.4.2.) Als Religion ist das Christentum faktisch wohl am nachhaltigsten durch die biographiebezogenen Rituale wie Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung, aber auch durch den jahreszyklischen Festkalender mit der Lebenswelt der Menschen verwoben. Weit über die ihnen eng verbundenen Menschen hinaus sind die Kirchen mit Erwartungen an Religion konfrontiert, die sich in erster Linie an das kirchliche Ritenangebot richten. Die rituelle Inszenierung von Übergängen, Krisen und Zäsuren im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben ist eine unabweisbare Aufgabe der Religion; das Ritual kanalisiert die Emotionen, stabilisiert eine verlässliche Ordnung, bekräftigt den Zusammenhalt der Gruppe. Die Kirche geht mit den kulturreligiösen Funktionserwartungen an eine symbolkräftige Ritualpraxis verantwortlich um, indem sie zweierlei berücksichtigt. Zum einen dient sie im Medium des Rituals den Menschen in ihrer Geschöpflichkeit; im Verständnis des christlichen Glaubens ist das Ritual in seiner ordnungsstiftenden Bedeutung selbst eine gute Schöpfergabe Gottes. Zum andern aber ist die Leistungskraft des Rituals begrenzt, erfüllt es doch seine sozialpsychologische Stabilisierungsfunktion reflexionslos, schon durch seinen bloßen Vollzug. Deshalb kann das Ritual als solches die Instabilitäten und Krisen, auf die es antwortet, nur beruhigen, aber nicht bearbeiten oder aufklären. Die Kirche weiß, dass Rituale notwendig, aber alles andere als ausreichend sind; sie geht davon aus, dass rituelle Vollzüge erst dann wirklich den Menschen und der Gesellschaft dienen, wenn sie verbunden sind mit dem deutenden Wort des Evangeliums, mit der klärenden Kraft der Sprache und mit dem Angebot des begleitenden Gesprächs.

    (1.4.3.) Religiöse Symbole gewinnen zivilreligiösen Charakter, wenn sie sich auf die Befestigung und Erneuerung der Legitimationsgrundlagen einer politischen Ordnung beziehen. Auch und gerade im Rahmen einer institutionellen Unabhängigkeit von Kirche(n) und Staat ist die Bedeutung von Religion für Begründung und Zusammenhalt des staatlichen Gemeinwesens nicht verschwunden. Als Zivilreligion werden diejenigen religiösen Elemente der politischen Kultur bezeichnet, die - relativ unabhängig von den verfassten Kirchen - wichtige Integrations- und Legitimationsfunktionen für die politische Ordnung erbringen. Dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und den zunehmenden kulturellen Pluralisierungsprozessen entsprechend müssen solche zivilreligiösen Bestände allerdings auf einen inhaltlich dünnen Minimalkonsens beschränkt bleiben: Sie reduzieren sich hierzulande vor allem auf die (deutungsoffene, nicht nur christlich zu interpretierende) Nennung Gottes als letzter Verantwortungsinstanz in Verfassungspräambeln und auf seine Anrufung anlässlich bestimmter öffentlich relevanter Handlungen (religiöse Eidesformel etc.). Aber auch der politische "Festkalender", die nationale Gedenkkultur oder die kollektive Begehung von herausgehobenen, für das gesamte Gemeinwesen bedeutsamen Ereignissen sind mit der Vergegenwärtigung kollektiv geteilter Wertüberzeugungen verbunden, die oft auf religiöse Inhalte und Ausdrucksformen zurückgreift. Die zivilreligiöse Symbolik kann, wenn sie auf das gesellschaftliche Wirken konkreter Kirchen und Religionsgemeinschaften bezogen bleibt, das Bewusstsein wach halten, dass der freiheitliche Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht hervorbringen kann. Der freiheitsverträgliche Charakter der Zivilreligion geht aber verloren, wenn der Staat selbst als ihr Produzent auftritt oder die Nation eine religiöse Überhöhung erfährt. Deshalb ist wichtig: Die neuere protestantische politische Ethik betrachtet Menschenwürde, universelle Menschenrechte und demokratische Partizipation als moralische Rechtfertigungsbasis jedes partikularstaatlichen Gemeinwesens. Nur insoweit sie damit verträglich sind, können die zivilreligiösen Elemente der politischen Kultur seitens der evangelischen Kirche gestützt werden.
     (1.4.4.) Gegenüber anderen Religionen vertritt das Christentum ein Ethos der aktiven Toleranz, das widerstreitende religiöse Überzeugungen nicht relativiert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit anerkennt. Die Differenz, ja Gegensätzlichkeit der in den verschiedenen Religionen gemachten Gotteserfahrungen deutet der christliche Glaube als Ausdruck der Verborgenheit Gottes. Christen erfahren diese Verborgenheit Gottes als Anfechtung ihrer Glaubensgewissheit; um so mehr sind sie jedoch darauf bedacht, den eigenen Glauben zu bezeugen und im Dialog über konkurrierende Wahrheitsansprüche zu bewähren. Die protestantische Unterscheidung des christlichen Glaubens von seinem unverfügbaren Grund bedeutet, dass fremde Glaubensweisen nicht (und sei es versteckt) für das christliche Gottesverständnis vereinnahmt werden dürfen, und dass es Gott selbst zu überlassen ist, was sich aus der Begegnung der christlichen Botschaft mit anderen Religionen ergibt. Deshalb verbinden die evangelischen Kirchen das Bekenntnis zu Jesus Christus mit der Achtung fremder Glaubensüberzeugungen und treten für eine Rechtsordnung ein, die schon von ihrem Selbstverständnis her die Freiheit der Religionsausübung aller im Rahmen der für alle geltenden Gesetze ermöglicht....


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