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Religionskritik im 20. Jahrhundert

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Jean-Paul Sartre (1905-1980), französischer Philosoph, Schriftsteller und politischer Journalist.
Mit seinen philosophischen Schriften, Essays, Romanen und Dramen wurde Jean-Paul Sartre zum führenden Vertreter des französischen Existentialismus. Sein Grundgedanke: "Der Mensch ist zur Freiheit verdammt"

 
 

Gott als Bedrohung der menschlichen Freiheit
Atheistischer Existentialismus

Atheismus als Voraussetzung für Freiheit und Humanismus
Verwickelt werden die Dinge dadurch, dass es zwei Arten von Existentialisten gibt: die ersten, welche Christen sind, unter die ich Jaspers und Gabriel Marcel (dieser katholischer Konfession) einreihen würde; und auf der anderen Seite die atheistischen Existentialisten, zu denen Heidegger und auch die französischen Existentialisten und ich selber zu stellen sind. Gemeinsam haben sie die Überzeugung, dass die Existenz der Essenz vorangehe oder, wenn Sie wollen, dass man von der Ichheit ausgehen muss. Was soll man genauer darunter verstehen? Betrachten wir ein Artefakt, z. B. ein Buch oder ein Papiermesser, so ist dieser Gegenstand von einem Handwerker angefertigt worden, der sich von einem Begriff hat anregen lassen; er hat sich auf den Begriff Papiermesser bezogen und zugleich auf eine vorher bestehende Technik der Erzeugung, welche zu dem Begriff gehört und im Grunde ein Rezept ist. Somit ist das Papiermesser zugleich ein Gegenstand, der auf eine bestimmte Art hergestellt wird und andererseits eine bestimmte Verwendung hat; und man kann sich nicht einen Menschen vorstellen, der ein Papiermesser anfertigte, ohne zu wissen, wozu der Gegenstand dienen soll. Wir werden also sagen, dass in bezug auf das Papiermesser die Essenz - d. h. die Summe der Rezepte und Eigenschaften, die erlauben, es anzufertigen und es zu bestimmen - der Existenz vorangeht, und so ist die Anwesenheit mir gegenüber solch eines Papiermessers oder solch eines Buches determiniert. Wir haben also hier ein technisches Bild der Welt, in der, kann man sagen, die Erzeugung der Existenz vorausgeht.

Wenn wir einen Schöpfer-Gott annehmen, so wird dieser Gott meistens einem höherstehenden Handwerker angeglichen; und was für eine theologische Lehre wir auch betrachten, ob es sich um eine Lehre wie die von Descartes oder von Leibniz handelt, wir räumen immer ein, dass der Wille mehr oder weniger dem Verstand folgt oder ihn wenigstens begleitet und dass Gott, wenn er schafft genau weiß, was er schafft.
Demnach ist der Begriff Mensch im Geiste Gottes dem Begriff Papiermesser im Geiste des Handwerkers anzugleichen, und Gott erzeugt den Menschen nach Techniken und einem Begriff, genau wie der Handwerker ein Papiermesser nach einer Definition und einer Technik anfertigt. So verwirklicht der individuelle Mensch einen bestimmten Begriff, der im göttlichen Verstande ist. Im 18. Jahrhundert wird in den atheistischen Lehren der Philosophen der Begriff Gottes abgeschafft, aber nicht ebenso sehr die Idee, dass die Essenz der Existenz vorangehe. Diese Idee finden wir sozusagen überall wieder: wir finden sie bei Diderot, bei Voltaire und selbst bei Kant wieder. Der Mensch ist Eigentümer einer menschlichen Natur; diese menschliche Natur, welche der Begriff des Menschen ist, findet sich bei allen Menschen wieder. Dies bedeutet, dass jeder Mensch ein besonderes Beispiel eines allgemeinen Begriffs "Der Mensch" ist.

Bei Kant geht aus dieser Allgemeinheit hervor, dass sowohl der Urwaldmensch, der Naturmensch wie der Bürger derselben Begriffsbestimmung unterworfen ist und dieselben Grundeigenschaften besitzt.

Somit geht auch hier noch die Essenz des Menschen der geschichtlichen Existenz voraus, der wir in der Natur begegnen. Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe, ist zusammenhängender. Er erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dass dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert. Wenn der Mensch so, wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert - ja nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht. Das ist der erste Grundsatz des Existentialismus.

Aber wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist. Somit ist der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen . . . Aber damit wollen wir ebenfalls sagen, dass, indem er sich wählt, er alle Menschen wählt. Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, dass er sein soll. Wählen, dies oder jenes zu sein, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir wählen, bejahen, denn wir können nie das Schlechte wählen. Was wir wählen, ist immer das Gute, und nichts kann für uns gut sein, wenn es nicht gut für alle ist....

Als gegen 1880 französische Professoren eine weltliche Moral aufzustellen versuchten, sagten sie ungefähr folgendes: Gott ist eine unnütze und kostspielige Hypothese; wir unterdrücken sie, jedoch ist trotzdem notwendig - damit es eine Sittlichkeit, eine Gesellschaft und eine bürgerlich geordnete Welt überhaupt gebe -, dass einige Werte ernst genommen und als a priori bestehend angesehen werden. Es muss a priori pflichtmäßig sein, dass man ehrenhaft ist, dass man nicht lügt, dass man seine Frau nicht schlägt, dass man Kinder auf die Welt setzt usw. usw. . . ., wir werden also eine kleine Arbeit unternehmen, die erlauben wird zu zeigen, dass diese Werte trotz allem bestehen, dass sie in einem intelligiblen Himmel verzeichnet sind, wenn andererseits es auch keinen Gott gibt. Mit anderen Worten (und dies, glaube ich, ist die Gedankenrichtung von allem, was man in Frankreich Radikalismus nennt), nichts wird geändert sein, wenn Gott nicht existiert; wir werden dieselben Richtsätze von Ehrenhaftigkeit, von Fortschritt, von Menschlichkeit wiederfinden, und wir werden aus Gott eine verjährte Hypothese gemacht haben, die ruhig und von selber sterben wird.

Der Existentialist denkt im Gegenteil, es sei sehr störend, dass Gott nicht existiert, denn mit ihm verschwindet alle Möglichkeit, Werte in einem intelligiblen Himmel zu finden; es kann nichts a priori Gutes mehr geben, da es kein unendliches und vollkommenes Bewusstsein mehr gibt, um es zu denken. Nirgends steht geschrieben, dass das Gute existiert, dass man ehrenhaft sein soll, dass man nicht lügen soll; genau aus dem Grunde, weil wir auf einer Ebene uns befinden, wo es nur Menschen gibt.

Dostojewski hatte geschrieben: "Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt." Das ist der Ausgangspunkt des Existentialismus. In der Tat, alles ist erlaubt, wenn Gott nicht existiert, und demzufolge ist der Mensch verlassen, da er weder in sich noch außerhalb seiner eine Möglichkeit findet, sich anzuklammern. Vor allem findet er keine Entschuldigungen. Geht tatsächlich die Existenz der Essenz voraus, so kann man nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit.

Wenn wiederum Gott nicht existiert, so finden wir uns keinen Werten, keinen Geboten gegenüber, die unser Betragen rechtfertigen. So haben wir weder hinter uns noch vor uns, im Lichtreich der Werte, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das ist es, was ich durch die Worte ausdrücken will: Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut. Der Existentialist glaubt nicht an die Macht der Leidenschaft. Er wird nie denken, dass eine schöne Leidenschaft ein verwüstender Wildbach ist, der den Menschen unvermeidlich zu gewissen Taten führt und der deshalb eine Entschuldigung ist. Er denkt, der Mensch sei für seine Leidenschaft verantwortlich . . . Er denkt also, daß der Mensch ohne irgendeine Stütze und ohne irgendeine Hilfe in jedem Augenblick verurteilt ist, den Menschen zu erfinden.

Der Existentialismus ist nichts anderes als eine Bemühung, alle Folgerungen aus einer zusammenhängenden atheistischen Einstellung zu ziehen. Er versucht keineswegs, den Menschen in Verzweiflung zu stürzen. Aber wenn man, wie die Christen, jede Haltung des Unglaubens Verzweiflung nennt, so geht der Existentialismus von der Urverzweiflung aus. Der Existentialismus ist mithin nicht ein Atheismus im Sinne, dass er sich erschöpfen würde im Beweis, Gott existiere nicht. Eher erklärt er: Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt. Nicht, als ob wir glaubten, dass Gott existiert, aber wir denken, dass die Frage nicht die seiner Existenz ist. Der Mensch muss sich selber wieder finden und sich überzeugen, dass ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.
In diesem Sinne ist der Existentialismus ein Optimismus, eine Lehre der Tat, und nur aus Böswilligkeit können die Christen, ihre eigene Verzweiflung mit der unseren verwechselnd, uns zu Verzweifelten stempeln.



J.P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus?
Zitiert nach W.Trutwin: Gespräch mit dem Atheismus, Göttingen 1970, S. 62 ff.

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 Aufgaben:

  • Was meint Sartre mit Essenz und Existenz ?
  • Klären Sie Sartres Freiheitsbegriff !
  • Inwieweit widerspricht dies der christlichen Freiheitsvorstellung?

  • (Setzen sie sich mit den Argumenten eines christlichen Theologen auseinander!)
     

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