Die Antwort des Atheismus: - "Es gibt keinen Gott"
Dr. Dr. Joachim Kahl promovierte 1967 zum Doktor der Theologie. Unmittelbar danach trat er aus der Kirche aus und veröffentlichte 1968 den Essay "Das Elend des Christentums", der zu einem Klassiker der kirchenkritischen Literatur in Deutschland geworden ist. Joachim Kahl ist Mitglied des Humanistischen Verbandes.

Joachim Kahl

Ist Atheismus auch nur ein religiöser Glaube?
Überlegungen zur Begründung eines undogmatischen Atheismus
 

In religionsphilosophischen Diskussionen wird mir regelmäßig entgegengehalten: Auch du vertrittst mit deinem Atheismus nur eine besondere Spielart religiösen Glaubens. Dein Atheismus ist genauso unbeweisbar wie unser Gottesglaube. Du hast keinerlei Vorsprung an rationaler Erkenntnis. Beide, Gottesglaube und Gottesleugnung, sind gleichermaßen unbewiesen, unbeweisbar. Argumentativ unschlichtbar und äußerlich gleichberechtigt streiten miteinander ein atheistisches und ein religiöses Glaubensbekenntnis. Was ist darauf zu erwidern?

Zunächst ist deutlich zu machen, dass hier eine historische und theoretische Rückzugsposition eingenommen wird. Wenig ist in ihr übriggeblieben von der einstigen Anmaßung, der jeweils eigene Gottesglaube sei - als der allein wahre Glaube - durch vielfältige Offenbarungen, durch heilige Schriften und durch Wunder überzeugend verbürgt. Nur diabolische Verblendung lasse Menschen in sündhaftem und strafwürdigem Unglauben verharren!

Deine Religion sei der Atheismus!

Nunmehr wird immerhin dem Atheismus derselbe erkenntnistheoretische Status wie der eigenen Religion eingeräumt: ein unbeweisbarer Glaube unter mehreren möglichen zu sein. Auf den fluchbedrohten Vorwurf des Unglaubens wird in diesem Zusammenhang gerne verzichtet, so dass Religiosität als unentrinnbare anthropologische Struktur erscheint: Auch du, Atheist, bist ein Gläubiger! Deine Religion ist eben der Atheismus.

Auf den Anspruch, zwingend beweisbar zu sein, muss der Atheismus in der Tat verzichten. Als philosophische Gesamtdeutung der Welt ist Atheismus so unbeweisbar, wie jede andere Aussage über die Welt als Ganze unbeweisbar ist. Jede Aussage über die Welt als Ganze hat den erkenntnistheoretischen Status einer metaphysischen Hypothese, die - unterhalb der Ebene unmöglicher Beweisbarkeit - argumentativ gestützt oder empirisch entkräftet werden kann.

Weil das menschliche Erkenntnissubjekt - unvermeidlich und unabänderlich - selbst Teil der Welt ist, kann es die Welt niemals als Ganze, gleichsam von außen, in den Blick nehmen, sondern sie nur von einem bestimmten innerweltlichen Standort aus erkennen: ausschnitthaft, relativ und perspektivisch.

Aus der gedanklichen Verknüpfung möglichst vieler dieser empirischen Erkenntnisse lässt sich dann ein Modell der Welt konstruieren: jene metaphysische Hypothese über den Gesamtzusammenhang, den Gesamtcharakter der Welt. Als transempirische (das heißt: über die Erfahrung hinausgehende) Konstruktion des Weltganzen ist dieses Modell erklärtermaßen nicht empirisch verifizierbar, nicht beweisbar. Und zwar deshalb, weil sich die unendliche Totalität einer bestätigenden Überprüfung durch ein endliches Erkenntnissubjekt naturgemäß entzieht.

Dennoch enthält diese Erkenntnissituation, wie sie seit Beginn der Neuzeit durch René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant definiert ist, keinen Freibrief für relativistische und agnostische Beliebigkeiten. Zwischen rivalisierenden metaphysischen Weltdeutungen - etwa zwischen Gottglauben und Atheismus - besteht nicht nur die Möglichkeit ebenso konfrontativer wie dogmatischer Glaubens- oder Unglaubensbekenntnisse.

Eine Welt ohne Gott

Es besteht - zumindest von seiten eines undogmatischen Atheismus - auch die Möglichkeit argumentativen, abwägenden Vorgehens nach Plausibilitätsgesichtspunkten. Es geht darum, eine erklärungsstarke Hypothese für das Dasein und Sosein der Welt zu finden, ein überzeugendes Konstruktionsmodell für ihren strukturellen und funktionalen Zusammenhang zu entwerfen. Und da lässt sich nüchtern feststellen: Ohne die Hypothese "Gott" lässt sich die Welt viel schlüssiger, klarer, redlicher, widerspruchsfreier begreifen als mit ihr!

Alles, was die Wissenschaften über die Unermesslichkeit des Weltalls, über die Evolution der Organismen und über das Gehirn des Menschen herausgefunden haben, lässt sich nicht oder nur gewaltsam und gekünstelt mit dem Glauben an einen fürsorglichen und gerechten Vatergott vereinbaren.

Ist es glaubwürdig und vernünftig, in den Fluchtbewegungen der Galaxien und im genetischen Würfelspiel von Mutation und Selektion einen tieferen oder höheren Sinn oder gar das liebende Antlitz eines persönlichen Schöpfergottes sehen zu wollen? Welche Absurdität mutet uns der christliche Erlösermythos zu: Gott sei Mensch geworden auf einem winzigen Planeten im Arm einer beliebigen Spiralgalaxie! Es gibt Milliarden solcher Galaxien. Der Welterlösungsanspruch des Gekreuzigten auf Golgatha und unser Wissen vom Aufbau des Weltalls - sie passen einfach nicht zusammen.

Gottesglaube und Atheismus stehen beide auf demselben erkenntnistheoretischen Boden, insofern sie sich als Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit strenger Beweisbarkeit entziehen. Insofern sie beide zugleich aber auch etwas über erfahrene Wirklichkeitsausschnitte aussagen, liefern sie sich unvermeidlich der empirischen Überprüfbarkeit, das heißt der Widerlegbarkeit aus.

Dem Atheismus bringt diese Begrenzung des Anspruchs die heilsame Korrektur eines fundamentalistischen Selbstmissverständnisses. Für den Gottesglauben ergeben sich desaströse Folgen. Denn implizit wird die Berufung auf höhere Einsicht infolge privilegierten Erkenntnisgewinns durch Offenbarung, Heiligen Geist und heilige Schriften preisgegeben. Außerdem übersteht der Gottesglaube den Härtetest durch die alltägliche Wirklichkeit immer weniger unbeschädigt.

Der Herr ist mein Hirte

Nehmen wir als unstrittiges Beispiel eines authentischen Gottesglaubens den Psalm 23, der in der Übersetzung Martin Luthers lautet:

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele; er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Man mag es drehen und wenden, wie man will, den Text historisch-kritisch exegesieren oder allegorisch deuten: die ungeschönten Erfahrungen von Juden und Christen - miteinander und gegeneinander, in diesem Jahrhundert und zu allen früheren Zeiten -, sie entlarven dieses klassische Bekenntnis frommen Gottvertrauens als Selbstbetrug. Die traditionsreiche Selbstverwandlung des Beters zum Schaf entlockt mir - je nach Stimmungslage - entweder Mitleid oder sarkastisches Gelächter.

Trennscharf zeigt der Bibeltext den inhaltlichen Unterschied zwischen religiösem Glauben und undogmatischen, skeptischen Atheismus auf.

Religiöser Glaube ist Heilsgewissheit, hoffender Glaube und gläubige Hoffnung auf die behütende, bewahrende, erlösende Kraft göttlichen Eingreifens hier und jetzt und in alle Zukunft - unter allen Umständen, in allen Widrigkeiten.

Undogmatischer, skeptischer Atheismus kennt keine Heilsgewissheit, freilich auch keine Unheilsgewissheit, sondern sinnt - nüchtern und der Erde treu - auf ein menschenwürdiges Leben diesseits von "Himmel" und "Hölle". Statt auf Erlösung zu hoffen, arbeiten Atheisten "nur" mit an der Befreiung. Das Höchste, was sie kennen, ist Glück im Unglück, das es mit Anstand und Humor zu meistern gilt.


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