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      Religion - der Wunsch, ganz zu sein

    Dorothee Sölle (1929 - 2003)
    Evangelische Theologin und Schriftstellerin


     

    Wonach sehnen sich Menschen?
    Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben.
    Das alte Wort der religiösen Sprache »Heil« drückt genau dieses Ganz-Sein, Unzerstückt-Sein, Nicht-kaputt-Sein aus... Es ist zugleich der Wunsch nach einem Leben ohne Berechnung und ohne Angst, ohne äußere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne Absicherung, vertrauen können, hoffen können, glauben können.
    Alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und eben um dieses Glück des Ganz-Seins geht es in der Religion.

    Das religiöse Bedürfnis ist das Bedürfnis, Sinn zu erfahren und Sinn zu stiften.
    Die nicht-religiöse Haltung schließt ein gewisses Maß an Resignation, an Einsicht in das Verwirklichbare, das heißt aber auch an Unterwerfung in die natürlichen Notwendigkeiten ein. 
    Der Mensch ohne alle Religion ist leichter zufrieden zu stellen. Er ist »vernünftiger«, weil er ein so großes Ziel - wie das Ganz-Sein, das nicht-zerstückte Leben - erst gar nicht ersehnt.

    Religion ist der Versuch, nichts in der Welt als fremd, menschenfeindlich, schicksalhaft, sinnlos anzunehmen, sondern alles, was begegnet, zu verwandeln, es einzubeziehen in die eigene menschliche Welt.
    Alles soll so gedeutet werden, dass es »für uns« wird. Religion ist der Versuch, keinen Nihilismus zu dulden und eine unendliche (endlich nicht widerlegbare) Bejahung des Lebens zu leben.

    Benötigen wir das Wort »Gott«, um die noch nicht erreichte Totalität unserer Welt, die noch nicht erschienene Wahrheit unseres Lebens auszudrücken? In diesem Sinn lässt sich sagen, dass jeder Mensch die Frage, ob er an Gott oder an das Nichts, an den Sinn seines Lebens oder an die absolute Sinnlosigkeit glaubt, immer schon in seinem Leben entschieden hat.


    Dorothee Sölle, Der Wunsch, ganz zu sein, In: Die Hinreise, Stuttgart 1975, 167-185 (in Auszügen) | mehr von diesem Text:
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    Religion - Nicht nur Ja und Amen
     
    Wir wollen gleich zu Anfang erklären, was Religion alles nicht ist.
    • Eine Sache zum Auswendiglernen, wofür man Punkte bekommt, wenn man alles schön aufsagen kann.
    • Ein Gefühl, das man ein oder zweimal im Jahr aus der Kiste zieht, wenn Weihnachten ist oder man zu einer Beerdigung muss.
    • Eine Einrichtung, die Menschen für dumm verkauft, ihnen erklärt, wen sie wählen müssen, welche Zeitung die richtige für sie ist.
    • Eine Lehre, die einen dazu bringt, alles, was „von oben“ kommt - von der Regierung, der Polizei, der Schulleitung usw. - für gut und richtig zu halten.


    Das alles ist nicht Religion, sondern eine merkwürdige Mischung aus Dummheit, Gehorsam, Gefühllosigkeit, Abstumpfung und Feigheit, mit einem dünnen Aufguss von Gott angerührt.

    Wirkliche Religion, also wenn jemand echt fromm ist, ist ganz anders.

    Ein richtiger Christ hat Glaubenszweifel und Schwierigkeiten, mit allem was dazugehört:
    - mit der Kirche und ihren Vertretern;
    - mit der Bibel und ihren Auslegern;
    - mit Jesus und was daraus geworden ist;
    - mit Gott - und da wissen wir noch nicht einmal, ob wir er oder sie von Gott sagen sollen.

    aus: Dorothee Sölle/Fulbert Steffensky, Nicht nur Ja und Amen,Reinbek 1983, 11f. (gekürzt)


     
     
     


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