Zur Entstehung der Evangelien
Jahrhundertelang ging man davon aus, dass die Evangelisten Augenzeugen des Geschehens gewesen seien, von dem sie berichten. Die theologische Forschung hat allerdings Ergebnisse gebracht, die in eine andere Richtung gehen. Der Entstehungszeitraum der neutestamentlichen Texte umfasst ca. 70 Jahre. Am Anfang der mündlichen Überlieferung standen die Worte und Geschichten von Jesus. Die ersten Christen glaubten, das Ende der Zeit stehe kurz bevor. Sie gingen davon aus, dass Jesus bald zurückkehren werde.
Deshalb schrieb man zunächst auch nichts auf. Das älteste Evangelium ist das Markus-Evangelium. Sind die Evangelien eine zuverlässige Quelle?
Schaubild
- - - -  mündliche Überlieferung
____  schriftliche Überlieferung
Markus
Markus verfasste als erster ein Evangelium (ca 70). 
Er war kein Augenzeuge, sondern sammelte die Jesusüberlieferung seiner Zeit: Gleichnisse, Wundergeschichten, Streitgespräche und Worte Jesu.
Daraus formte Markus sein Evangelium. Ihm kam es nicht auf historische Genauigkeit an. Mit seinem Bericht von Jesu Zug nach Jerusalem, vom Unverständnis der Jünger, dem Geheimnis des Messias, seiner Ablehnung durch die Frommen und seiner Aufnahme durch die Ausgestoßenen entwickelte Markus seine Christologie. Jesus Christus ist der Auferstandene, der seiner Gemeinde als der lebendige Herr vorangeht.

Matthäus
Etwa zehn Jahre später schrieb Matthäus ein weiteres Evangelium. 
Markus diente ihm als Vorlage. Matthäus hatte weiteres Material gesammelt: In der Spruchquelle (Q) fand er Worte Jesu, die er in den Ablauf des Markusevangeliums einfügt.
Für Matthäus ist Jesus der zweite Mose, der in seiner Bergpredigt das Gesetz Gottes endgültig ausgelegt und durch sein Leben und seinen Tod am Kreuz erfüllt. Matthäus predigte Jesus Christus als den Messias, den das Alte Testament angekündigt hatte.

Lukas
Ein Jahrzehnt später schrieb Lukas um das Jahr 90 n. Chr. ein Evangelium. 
Hatte Markus und zum Teil auch noch Matthäus mit einer baldigen Wiederkunft des Auferstandenen gerechnet, so war diese Hoffnung bei Lukas der Erwartung gewichen, dass die Gottesherrschaft sich mit dem Wachsen der Kirche Zug um Zug ausbreiten werde.
Aus dieser Sicht entwarf Lukas sein Evangelium als ein Geschichtswerk, in dem er den Ablauf der Geschichte als Heilshandeln Gottes darstellte. 

Johannes
schreibt Anfang des 2. Jahrhunderts Johannes ein neues Evangelium.
Das Johannesevangelium unterscheidet sich in Stoff, Aufbau und Sprache so charakteristisch von den drei anderen Evangelien (Synoptische Evangelien), dass ihm eine Sonderstellung eingeräumt werden muss. Zweifellos stammt es nicht nur aus späterer Zeit, sondern aus einer eigenen, in sich geschlossenen Gemeinde, die eine eigene Sprache und Denkstil entwickelt hat.
Johannesevangelium

 


 

Sind die Evangelien eine zuverlässige Quelle?
Dazu schreibt der Theologe H. ZAHRNT:
 
"...Wer vorurteilslos an die Evangelien herangeht, gewinnt aus ihnen - trotz aller Verschiedenheit im einzelnen - den Eindruck einer einheitlichen, geschlossenen Persönlichkeit. die hinter allem steht. Besäßen wir literarisch nur ein einziges Evangelium und stammte dies zudem noch von einem einzigen Verfasser, so müssten wir damit rechnen. dass das geschlossene, einheitliche Bild der Persönlichkeit Jesu, das uns aus der Überlieferung entgegentritt, eine literarische Schöpfung und religiöse Fiktion sein könnte. . . .

Wenn solche bruchstückhafte Überlieferung trotzdem das Bild einer einheitlichen, geschlossenen Persönlichkeit darbietet, so kommt man nicht um das Urteil herum, dass dieses Bild historisch echt sein muss. Das aber heißt, dass die einheitliche, geschlossene Persönlichkeit von vornherein am Anfang gestanden hat und nicht erst im Laufe eines literarischen Produktionsprozesses erschaffen worden ist.

So zieht sich durch die gesamte neutestamentliche Überlieferung eine durchgehende Linie von Jesu Glauben und Verkündigen zum Glauben und Verkündigen der Gemeinde, und das ist es, was der Überlieferung ihre Einheit gibt. Das Gesamtbild von Jesus ist nicht erst aus einzelnen Bruchstücken zusammengesetzt worden; vielmehr sind alle einzelnen Bruchstücke von vornherein durch sei Gesamtbild geprägt. ..

Es kommt dem Glauben bei seinem Rückbezug auf Jesus selbst nicht auf historische Details, sondern auf das Gesamtergebnis an: dass Jesus von Nazareth eine geschichtliche Person ist und seine Botschaft im Kern zuverlässig überliefert. Es geht dem Glauben nicht um Richtigkeit im einzelnen, sondern um die Richtung im ganzen: dass der Kernpunkt der Botschaft Jesu zugleich die Pointe seiner Existenz bildet und Verkündigen und Verhalten sich daher in seiner Person treffen.

Selbstverständlich braucht nicht alles, was die Gemeinde gebildet und geformt hat, deshalb schon ungeschichtlich zu sein..." 

(H. ZAHRNT )



J . KAHL : Die Unerkennbarkeit des historischen Jesus
(aus: Das Elend des Christentums, S. 70 f.)
 
Von allen Einzelfragen zunächst abgesehen, enthält die bloße Existenz dieser so vorläufig beschriebenen griechischen Evangelienschriften zwei grundlegende Probleme: 1. Das Sprachproblem. Jesus sprach einen hebräischen Dialekt, Aramäisch. Die Evangelien sind griechisch verfasst. 2.Das Zeitproblem. Jesus starb um 30; das älteste Evangelium entstand erst vier Jahrzehnte später.

Wie Jesus - nach allem, was wir annehmen müssen - einen unbedeutenden, fast literaturlosen Provinzdialekt sprach, so wurden seine Worte und Taten anfangs auch nur aramäisch berichtet. Zweisprachige Judenchristen trugen allmählich die Botschaft auch in den hellenistischen Bereich, nach Syrien, wo Griechisch, die damalige Weltsprache, gesprochen wurde. Dort gaben Menschen, die nur Griechisch verstanden, die christliche Propaganda weiter. Sämtliche Evangelien sind griechische Originaltexte. Nichts erweist sie als Übersetzungen aramäischer Urschriften. Kann man angesichts einer solchen Überlieferung, die damit endete, dass Menschen einer anderen Sprache - ohne Möglichkeit der Kontrolle - die Botschaft weitergaben, den Verdacht unterdrücken, dass sich Missverständnisse und Entstellungen einschlichen?
Dieser Argwohn verdichtet sich, wenn man bedenkt, dass zwischen  Tod und dem Entstehen des ältesten Evangeliums etwa vierzig Jahre vergingen - vierzig Jahre, in denen die Worte und Taten Jesu mündlich überliefert wurden. Wie man bei einem so langen anonymen Traditionsprozess noch begründet hoffen kann, Zuverlässiges über den historischen Jesus zu erfahren, ist mir unerfindlich. Doch bevor darüber im einzelnen verhandelt werden soll, sei gefragt: Warum wurden die Evangelien erst so spät abgefasst?

Der entscheidende Grund liegt in der sozialen Struktur der ältesten christlichen Gruppen. Die ersten Christen stammten überwiegend aus den unteren und untersten Gesellschaftsklassen - abhängige Bauern, Fischer, kleine Handwerker -, die selbstverständlich weder geneigt. noch fähig waren, Bücher zu verfassen. Aus dieser sozialen und geistigen Misere heraus ist auch abzuleiten, was gerne als Hauptgrund für das späte Entstehen der Evangelien angeführt wird. Die ältesten Christen rechneten nicht mit einer jahrtausendelangen Kirchengeschichte, sondern erwarteten jeden Tag das große Wunder, den mythischen Umschlag, die kosmische Katastrophe, mit der Gott und der wiederkehrende Christus dieser bösen Welt ein Ende bereiten sollten:

Die schriftliche Fixierung der Jesus-Tradition setzt voraus, dass diese Hoffnung sich als Täuschung entpuppte, und kündigt insofern das verstärkte Arrangement der Christen mit der bestehenden Welt an. Man richtete sich auf längere Zeiträume ein. Die älteste Generation, die Jesus noch miterlebt hatte und aus eigener Anschauung berichten konnte, starb aus, so dass ihre Erinnerungen - oder das, was dafür galt - festgehalten werden mussten

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