Johannesevangelium

Das Johannesevangelium besteht aus zwei Hauptteilen: Der erste beschreibt Jesu Leben und Offenbarung vor der Welt (Joh. 1,19-12,50), der zweite seine Rückkehr zu Gott. (Joh. 13,1-20,29). 

Vorausgestellt ist ein Prolog (Vorspruch) in Form eines Hymnus. (Lobgesang; Joh. 1,1-18) Er verkündet die «Fleischwerdung» des göttlichen «Logos» (griechisch: «Wort», «Rede»; in der griechischen Philosophie die «göttliche Vernunft», die zwischen dem jenseitigen Gott und der Welt die Rolle der Vermittlung übernimmt), der von allem Anfang an existiert hat, in Jesus Christus. An den Schluss von Joh. 20,30 ist ein Nachtrag (Kapitel 21), wohl von fremder Hand, angehängt worden.

Wie die Synoptiker gehört auch diese neutestamentliche Schrift zur literarischen Gattung der Evangelien, die das Leben Jesu, seine Wundertaten («Zeichen» der Offenbarung) und seine Lehre, seinen Tod und seine Auferstehung beschreiben. Aber zwischen den synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium gibt es zahlreiche Unterschiede: Die Synoptiker berichten von Jesu Wirken in Galiläa und seinem Weg nach Jerusalem, der zur Kreuzigung führte. Nach Johannes zog Jesus aber dreimal von Galiläa nach Jerusalem (Joh. 2,13; 5,1; 7,10), und seine Wirksamkeit umfasste mindestens zwei Jahre, davon ein halbes Jahr in Jerusalem. Nach Mk. 11-15 hielt er sich dort aber nur etwa eine Woche lang auf, und nach Mk. 2,23 und Mk. 14,1 dürfte Jesu Wirken insgesamt nicht länger als ein Jahr gedauert haben.

Die synoptischen Evangelien stellen ursprünglich voneinander unabhängige Einzelberichte, Einzelworte und Wortgruppen zusammen. Nur die Leidensgeschichte Jesu bietet einen größeren zusammenhängenden Bericht. Im Gegensatz dazu besteht das Johannesevangelium in der Hauptsache aus größeren Redekompositionen, die, oft in dialogischer Form, ein oder mehrere Themen umkreisen. Nur wenige Erzählungen hat das Johannesevangelium mit den Synoptikern gemeinsam. Das meiste, was Jesus in diesem Evangelium sagt, findet sich weder bei Markus noch bei Lukas noch bei Matthäus. Auch die Sprache Jesu ist im Johannesevangelium ganz anders als in der synoptischen Überlieferung.

Wahrscheinlich ist, dass Johannes das Markus- und das Lukasevangelium gekannt hat. Aber mit diesen seinen «Quellen» verfuhr er völlig frei. Er verwertete sie dann, wenn es ihm für seine eigene Darstellung dienlich erschien. Unsicher ist, ob Johannes auch andere Quellen (etwa eine Quelle von Offenbarungsreden Jesu, eine Quelle von Zeichenhandlungen, eine Sammlung von Leidens- und Auferstehungsgeschichten) benutzt hat.

Die Begriffswelt, in der sich Johannes bewegt, ist von der der Synoptiker völlig verschieden. Sie ist fast durchgängig von Gegensätzen gekennzeichnet: «Licht und Finsternis», «Lüge und Wahrheit», «oben und unten», «Vater und Sohn» stehen einander gegenüber. Eigentümlich sind die Begriffe, die das Heil beschreiben: «Lebenswasser», «Lebensbrot», «Licht der Welt».

Die Christologie des Johannesevangeliums kreist um die Vorstellung des in die Welt gesandten Sohnes, der am Ende wieder zum Vater zurückkehrt. Damit unterscheidet sich das Johannesevangelium von der palästinensisch-jüdischen Begriffswelt der Synoptiker, aber auch vom philosophischen Hellenismus. Hingegen zeigen sich Ähnlichkeiten zur heidnischen oder jüdischen Gnosis und den Schriften der Qumran-Gemeinde. Die Gnosis (griechisch: «Erkenntnis») war eine religiös-dualistische Strömung, die vor allem im 2. Jahrhundert das Christentum ergriff. Sie spekulierte über die Welt (als Ergebnis eines urzeitlichen Falles), die Menschen (die durch einen Funken des göttlichen Geistes mit Gott verbunden sind) und die Erlösung (durch radikale Ablehnung des Diesseits und den Glauben an die unverlierbare Göttlichkeit des Menschen). In Qumran lebte in der Zeit vom 2.Jahrhundert v.Chr. bis 68 n.Chr. eine jüdische Sekte in klosterartiger Gemeinschaft; ihre Hinterlassenschaft in Form einer ganzen Fülle von Schriftrollen (unter ihnen die ältesten heute bekannten Textzeugen der Bücher des Alten Testaments, daneben Gemeinderegeln und Lehrschriften) wurde 1947 aufgefunden. In der Vorstellungswelt jüdischer Gnosis und den Gedanken der Qumran-Gemeinde vermutet man den geistigen Boden des Johannesevangeliums. Anscheinend nahm Johannes die Sprache der Gnosis in Anspruch, um zu zeigen, dass Jesus der Offenbarer war, der die Erwartungen des Judentums erfüllte und die wahre Religion für alle Heiden stiftete. 

Die Heilstitel (Hirt, Weinstock, der Gesandte), die die Gnostiker für ihre Offenbarergestalten verwendeten, schrieb er Jesus zu. Joh. 10,11; 15,1; 5,36) Eigentümlich sind die Selbstaussagen Jesu im Johannesevangelium: «Ich bin das Brot des Lebens.» (Joh. 6,35) «Ich bin die Auferstehung und das Leben.» (Joh. 11,25) 

Eine Reihe von Texten des Johannesevangeliums wendet sich gegen Johannes den Täufer und seine Anhänger. Der Evangelist lässt ihn von sich weg und auf Jesus verweisen: er selbst sei weder Prophet noch Messias. Offensichtlich gab es unter den Adressaten des Johannes eine dem Evangelisten gefährlich erscheinende Täuferverehrung. Auch die Juden werden von Johannes recht scharf angegriffen. Joh. 5,16.18.37f 45; 7,1.19; 8,22-24. 37-59; 10,31-39). Dies deutet auf die ausgeprägte Feindschaft zwischen Juden und Christen zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums.
Der Verfasser des Evangeliums wird nirgendwo genannt. In der zweiten Hälfte der Schrift ist häufig die Rede von einem «Lieblingsjünger» Jesu (Joh. 13,23ff; i9,26f; 20,2ff). Er scheint in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu Petrus gestanden zu haben. Im Nachtragskapitel Joh. 21 ist offensichtlich der Tod dieses Lieblingsjüngers, der als Augenzeuge der Kreuzigung Jesu Joh. 19,35) und als Verfasser des Evangeliums angesehen wird Joh. 21,24), vorausgesetzt. Nach den Kapiteln Joh. 1-20 kann aber kein Jünger Jesu, also auch nicht der Lieblingsjünger, der Verfasser des Evangeliums gewesen sein. Vielleicht hatte der Schreiber des Johannesevangeliums Kontakt zu einem sehr alt gewordenen Jünger, dem der Ehrentitel «der, den Jesus liebte» zugeteilt worden war.

Die kirchliche Tradition hat seit alters Johannes, den Sohn des Zebedäus und «Herrenjünger, der auch an seiner [Jesu] Brust gelegen hatte», zum Verfasser des Evangeliums erklärt. (z.B. Irenäus 115-202, Bischof von Lyon) Dagegen sprechen freilich zahlreiche Gründe: die gnostische Sprache des Evangeliums, die Abhängigkeit vom Markusevangelium, fehlende Kenntnisse von den tatsächlichen Verhältnissen in Palästina und von der Auseinandersetzung Jesu mit Pharisäern (jüdische Religionspartei: «die Abgesonderten»), Sadduzäern (jüdischer, vorwiegend aristokratischer Priesteradel, der weltoffener war als die Pharisäer) und Schriftgelehrten. Der Verfasser des Johannesevangeliums bleibt uns unbekannt. Seine Kenntnisse hat er wohl über einen Christen aus Palästina erhalten. Wahrscheinlich hat er sein Evangelium im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts irgendwo in Syrien verfasst. Aus seinem Umkreis dürften auch die Verfasser der Johannesbriefe und der neutestamentlichen Apokalypse stammen.

(nach Jugendlexikon Religion)

 
 

 


 
 
 
 
 

 



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