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Dr. Hans P. Lichtenberger (Systematisch-theologisches Seminar der Uni Bern)
Religionskritik ist heute nicht gefragt, aber dringend notwendig für Kirche und Gesellschaft

Hans P. Lichtenberger

Religionskritik als Thema christlicher Theologie
 

Religionskritik ist christlichem Glauben und christlicher Theologie nicht fremd. Sie gehörte schon immer zu ihnen als eine ständige Form der Selbstprüfung hinsichtlich der Angemessenheit ihrer Rede von Gott und ihrer gesellschaftlichen Praxis. Dem lebhaften religiösen Pluralismus unserer Tage erscheint Religionskritik als überholt. Sie ist jedoch für die Identität des christlichen Glaubens von fundamentaler Bedeutung.

Im Jahre 1841 schreibt Karl Marx: "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendet, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik."

Diese Worte, bezogen auf Ludwig Feuerbachs (1804-1872) "Wesen des Christentums", das ein Jahr zuvor erschienen war, klingen wie aus einer anderen Welt. Doch besteht zur Häme kein Anlass. Marxens fundamentale These, dass Religionskritik in erster Linie Gesellschaftskritik sei, gewinnt an Brisanz, gerade angesichts der gegenwärtigen Konjunktur des Religiösen, die sich ja weder aus der Überzeugungskraft der akademischen Theologie noch aus der hinreissenden Lebendigkeit unserer Kirchen speist. Für Marx wäre die heute vielberufene "Wiederkehr des Religiösen" vielmehr ein treffliches Beispiel dafür, wie sich religiöse Bedürfnisse aus sozialen und psychischen Ursprungssituationen herleiten.

Dennoch ist Religionskritik heute weitgehend in Vergessenheit geraten und die freundliche Beliebigkeit religiösen Meinens und Glaubens ist gesellschaftlicher Konsens. Auf dieser toleranten Basis erscheinen Glaubenssachen oder religiöse Optionen welcher Art auch immer als Privatangelegenheiten, als subjektive Lebensentscheidungen, die ihrer Natur nach aller Kritik und rationaler Argumentation entzogen seien. Es ist offensichtlich, dass in einem solchen Milieu auch der Allgemeinheitsanspruch des christlichen Glaubens nur als ein partikulares Angebot auf dem Markt des religiösen Pluralismus angesehen werden kann.

Für das gegenwärtige Verstummen der Religionskritik lassen sich Gründe vermuten:

Die Religionskritik des 19. Jahrhunderts (exemplarisch Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche ...), die auch im 20. Jahrhundert weite Resonanz hatte und ein öffentliches Bewusstsein prägte, hatte sich in erster Linie als eine Kritik des abendländischen Christentums ausgebildet. Sie war in einer heute nur noch historisch verstehbaren Weise eurozentrisch. Die These vom bevorstehenden und zwangsläufigen Absterben der Religion erscheint gegenwärtig in zweifacher Weise überholt:

  • Die weltweite Vernetzung hat auch den säkularisierten Nachrichtenkonsumenten in den letzten Jahren zunehmend mit der politischen Kraft religiöser Prägungen, Antriebe und Identitäten konfrontiert. Dabei erweisen sich Fundamentalismen, die häufig Politik und Religion verbinden, als weitgehend immun gegen die Religionskritik der westeuropäischen Aufklärung. Hier sehen wir uns Realitäten gegenüber, an denen wir immer wieder das Scheitern unserer Erklärungsversuche erleben.

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  • In unserer eigenen Gesellschaft beobachten wir eine unübersichtliche Wiederbelebung religiöser Interessen und Bedürfnisse. Sie reichen von individueller Sinnsuche bis hin zu kosmischen Ganzheitserklärungen, von Magie und Astrologie bis zu anspruchsvollen östlichen Meditationstechniken, von körpernahen Ganzheitswünschen bis zu spekulativen Reinkarnationsvorstellungen. Jeder Blick in die Esoterik-Abteilung einer unserer Buchhandlungen kann dies eindrücklich belegen.
  • Dieses Interesse hat sich überwiegend abseits der traditionellen Kirchen entwickelt. Es ist für die christliche Theologie eine Herausforderung, die nicht damit abgetan werden kann, lediglich eine Fehlform des "wahren Glaubens" zu sein. Es hat die christlichen Kirchen aus ihrer religiösen Monopolstellung verdrängt. Doch kann es der christlichen Theologie nicht darum gehen, gleichsam aus gekränkter Eitelkeit diese neuen religiösen Bewegungen zu richten oder verächtlich zu machen. Sie hat einerseits diese Realitäten ernst zu nehmen und sich selbstkritisch zu fragen, weshalb christliche Verkündigung an ihnen weitgehend vorbeigeht. Meines Erachtens muss sie aber zugleich deutlich machen, dass der christliche Glaube sich nicht als eine Anstalt zur Befriedigung religiöser Bedürfnisse sieht, sondern den Menschen die skandalöse Botschaft vom Gott am Kreuz zumutet. In der Entfaltung dieser Botschaft kann die Theologie die Religionskritik nicht entbehren.
     

    Krise der Rationalität - Wiederkehr der Religion

    Das beherrschende Thema unserer Jahre ist nicht die Kritik der Religion, sondern die Kritik der Vernunft. Der Fortschrittsglaube, der meinte, Natur, Gesellschaft und menschliches Individuum der Herrschaft einer rechnenden Rationalität unterwerfen zu können, ist sichtbar an seine Grenzen gestoßen. So scheint "Krise der Rationalität - Wiederkehr der Religion" zum Merkmal einer Gegenwart zu werden, die sich selbst mit dem schillernden Begriff der "Postmoderne" bezeichnet.

    Die Individualität rebelliert nicht gegen die Vernunft, sondern gegen einen totalisierenden Vernunftgebrauch. Zwar ist unumstößlich: all die modernen Systeme unserer Lebenswelt sind zweckrational strukturiert: Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft …, niemand kann sich in diesen Sektoren Irrationalismen wünschen.

    Die neue Religiosität hat sich in die Nischen gesetzt, die von der Dynamik gesellschaftlicher Zweckrationalität ausgespart bleiben. Dieser Ort ist jene Individualität, die sich instinktiv dagegen sträubt, nur Mittel zu einem systembedingten Zweck zu sein. Dieser Protest findet heute ein mögliches Ventil in privatisierten religiösen Bedürfnissen und Sehnsüchten. Doch bleibt er dabei ein Reflex, eine Kompensation: negativ bezogen auf eine ökonomisch technisierte und bürokratisierte Gesellschaft. Die Individualität flieht in ein nicht verrechenbares Anderssein. Doch der Fliehende bleibt an das gebunden, wovor er flieht. Solange Vernunft nur als Repression der Individualität erfahrbar ist, solange muss die Flucht in die neue Religiosität als Flucht ins Irrationale erscheinen.

    So wird es verstehbar - und entbehrt doch nicht einer traurigen Komik - dass gerade Angehörige der technischen Intelligenz sich häufig in ihrer Freizeitrolle zu den Bereichen des Mythischen, Magischen und Esoterischen hingezogen fühlen. Der alte Konflikt von Vernunft und Glaube hat sich aufgelöst in unterschiedliche Rollenmuster, die eine Person widerspruchsfrei praktizieren kann.

    Wenn heute gerade die Irrationalität religiöser Äußerungen so hoch im Kurs steht, so wird klar, dass Theologie und Kirche in ihrer herkömmlichen Form in eine neue ungewohnte Rolle geraten: eine "verkopfte" Theologie und eine starre, bürokratische Kirche werden Zielscheibe nicht der Religions-, sondern der Rationalitätskritik. Die Privatheit religiöser Überzeugungen findet in ihnen kein Zuhause. Diese Privatheit, die als Erbe der Aufklärung hoch anzuerkennen ist, bastelt sich jeweils maßgeschneiderte Religiosität zusammen aus verfügbaren Versatzstücken der Weltreligionen, versetzt mit psychosomatischen Stresshemmern, abgerundet mit Erdfrömmigkeit und Naturmythen.

    Hier hat atheistische und christliche Religionskritik durchaus ein Thema. Es ist bezeichnend, dass es diese Religionskritik heute nicht in repräsentativem Stil gibt. Die Frage ist die nach den gesellschaftlichen Wurzeln des religiösen Booms, und weshalb dieser weitgehend an den traditionellen Religionssystemen vorbeigeht. Die Religionskritik hat zugleich das Antlitz einer Gesellschaft freizulegen, die sich in der Reduktion auf ausschließlich ökonomische Funktionalität nicht mehr wiedererkennen kann.

    Mit dem ideologiekritischen Ansatz von Karl Marx ist durchaus zu sehen, inwiefern die neue Religiosität Marktgesetzen gehorcht. In einen dies sprengenden Kontext gehört jedoch das Problem, dass die Religion teilhat an der Zweideutigkeit, Zerrissenheit, oft auch Tragik der menschlichen Existenz. In der Religion artikulieren sich jene Brüche unseres Daseins, die nicht in der gesellschaftlichen Zweckrationalität aufgehen. Dies macht die tiefe Ambivalenz der Religion aus: dass sie als gesellschaftliche Gestalt und Funktion Erfahrungen artikuliert, die nicht in gesellschaftlicher Zweckrationalität aufgehen.
     

    Theologie und Religionskritik

    In diese Ambivalenz ist auch die christliche Kirche gestellt. Sie hat ihre weltliche Existenz und gesellschaftliche Funktion zu bejahen und verantwortlich auszuüben. Sie muss gleichzeitig klarstellen, dass christlicher Glaube von religiöser Sinnbefriedigung unterschieden ist. Ihr Selbstverständnis kann nicht das einer religiösen Kompensation einer säkular unbefriedigten Welt sein. Sie hat vielmehr das erste Gebot in der christologischen Interpretation des Neuen Testaments zu vertreten - auch als Kritik dieser Welt und ihrer Religion.

    In der Besinnung auf dieses ihr Thema kann die Theologie nicht hinter die Religionskritik zurück. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Religionskritik hat auch die christliche Theologie das immense religionskritische Potential wiederentdeckt, das in ihrer eigenen biblischen Überlieferung steckt: von der Kultkritik der Propheten über das Bilderverbot bis hin zur paulinischen Rechtfertigungslehre, die in menschlicher Religiosität eine selbstgerechte Verweigerung gegenüber der Gnadenzusage Gottes sieht.

    Christliche Theologie muss meines Erachtens in der Religionskritik ihren unfreiwilligen, aber notwendigen Partner sehen. Dies kann nicht bedeuten, dass sie ihre atheistischen Bestreiter als "verkappte Gottsucher" umarmt und erdrückt. Die Unterscheidung theologischer Rezeption der Religionskritik von dem Selbstverständnis ihrer Vertreter darf nicht überspielt werden, soll denn die Religionskritik überhaupt ernst genommen werden. Nur dann zwingt die Religionskritik die Theologie zur Konzentration auf ihr eigenstes Thema, die "Wahrheit Gottes", anstatt ihren eigenen anthropologischen oder gesellschaftlichen "Nutzen" zu begründen.

    Dass diese "Wahrheit Gottes" in menschlicher, und das heißt, religiöser Gestalt erscheint, wird hier zum Problem. Gewisse Verteidiger des Christentums sagen hier: Die Religionskritik treffe wohl alle falsche Religiosität, nicht aber die eigene christliche Botschaft. Wenn Feuerbach feststelle, die Gottesvorstellungen seien nichts als Projektionen des menschlichen Selbstbewusstseins, so sei dem voll zuzustimmen. Nichts anderes habe die Bibel in ihrer Kritik zum Anthropomorphismus auch immer schon gesagt. Die biblische Botschaft sei keine Religion, sondern die Überwindung aller kritikwürdiger Religion und daher immun gegen solche Angriffe.

    Derartige Verfahrensweisen zehren von einer höchst problematischen Unterscheidung von "Kern und Schale". Zur Kritik freigegeben werden die Elemente, die - phänomenologisch überwiegend der Volksfrömmigkeit zugeordnet - plausibel in ihrer sozialen und ideologischen Funktion durchschaut werden können. Verteidigt wird so lediglich die innere Burg eines "Restes", von dem schließlich niemand mehr sagen kann, was er denn sei, weil er von aller Äußerlichkeit befreit ist.

    Eine solche Strategie muss in die Sprachlosigkeit führen. Der Glaube aber muss sich ausdrücken: im inhaltlichen Bekenntnis, im praktischen Handeln, im Erzählen von Erfahrungen, in der Einbettung in Traditionen und Rituale. In alledem weiß er, dass diese Gestaltungen kritikwürdig sind nicht nur von außen, sondern auch aus ihm selbst heraus.
     

    "Bild und Sache"?

    Theologie, die durch Religionskritik belehrt ist, wird stets die Differenz zwischen menschlichen religiösen Überzeugungen und der Wirklichkeit Gottes, die wir nie in direktem Zugriff haben, aufrechterhalten. Sie wird zwischen Gott und Gottesvorstellung unterscheiden, auch wenn sie als Maßstab nicht mehr zur Hand hat als das Wort Gottes in menschlicher, d.h. immer kritikwürdiger Interpretation. Sie durchschaut, dass wir auf Bilder angewiesen sind, ohne das Bild mit der Sache zu verwechseln.
    Die Differenzierung von Bild und Sache ist nicht die obige von Schale und Kern. Schon Feuerbach hat trefflich prägnant festgestellt: "Wer der Religion das Bild nimmt, der nimmt ihr die Sache … Das Bild ist als Bild Sache" (Wesen des Christentums, Ges. Werke Bd 5, Berlin 1974, S.6)

    Es ist allerdings sehr die Frage, ob Feuerbachs Identifizierung von Bild und Sache auch nur dem empirischen Phänomen der Religion gerecht wird. Das Selbstverständnis des reflektierten Glaubens und der Theologie wird sie keineswegs treffen. Das Bild selbst nämlich zeigt hier eine Differenz an, die es nicht überbrücken kann: es hat die Aufgabe, Ferne und Nähe des Göttlichen zu vermitteln. Das Bild - Mythen, Rituale, Dogmen, Institutionen - ist unverzichtbar, denn nur hier wird dem Bewusstsein das Göttliche gegenwärtig. Es hat aber an der Zweideutigkeit alles Religiösen teil. Damit ist es zugleich etwas Vorläufiges. Es darf sich nicht an die Stelle des Gottes setzen, dessen Anwesenheit es repräsentiert. Wo Gott selbst erfahren wird, zerbricht die Welt der Bilder.

    Es gibt eine interne Religionskritik des Christentums, die sich an das zweite Gebot ("Du sollst dir kein Bildnis machen") anschließt. Sie hat stets vor der Gefahr gewarnt, das Bild mit Gott selbst zu verwechseln. Doch auch die radikale Tendenz negativer Theologie, in der Auslöschung aller Bilder den reinen Gott zu ehren, nimmt der Religion ihre Leibhaftigkeit und anthropologische Dimension.

    Zwischen Bild und Bilderverbot gibt es meines Erachtens keinen programmatischen Mittelweg. Christliche Theologie wird stets beides tun: Bilder machen und Bilder zerschlagen.

    Gewiss, wer sich als Theologe auf die Religionskritik ernsthaft einlässt, kommt nicht ungeschoren davon. Doch ist dem Glauben niemals verheißen, dass er es leicht haben wird. Die reformatorische Theologie hat dies in der Einsicht reflektiert, dass Glaube und Anfechtung verschwistert sind.


    aus:UNI PRESS 97(Uni Bern) Juni 1998

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