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Hans Küng

Theodizee
Testfall der Theodizee-Frage:  Gott in Auschwitz?
Sinnloses Leid nicht theoretisch verstehen,  sondern vertrauend bestehen 
 

"Wenn man sich seit Jahrzehnten mit all den Versuchen der Theodizee immer wieder beschäftigt hat, darf man es sicher so direkt sagen: Eine theoretische Antwort auf das Theodizee-Problem, scheint mir, gibt es nicht! Von einer gläubigen Grundhaltung her ist nur das eine zu sagen:

  • Wenn Gott existiert, dann war Gott auch in Auschwitz! Gläubige verschiedener Religionen und Konfessionen haben selbst in dieser Todesfabrik daran festgehalten: Trotz allem - Gott lebt.
  • Zugleich aber hat auch der Gläubige zuzugestehen: Unbeantwortbar ist die Frage: Wie konnte Gott in Auschwitz sein, ohne Auschwitz zu verhindern?
  • ... Weder die Hebräische Bibel noch das Neue Testament erklären es uns, wie der gute, gerechte und mächtige Gott - alle diese Attribute kann man schließlich und endlich doch nicht aufgeben, wenn es noch um Gott gehen soll! -, wie Gott in dieser seiner Welt solch unermessliches Leid im Kleinen (aber was ist hier »klein«?) und im Großen (ja, Übergroßen) hat geschehen lassen können. Wie hat Gott »mitansehen« können, dass Auschwitz möglich gemacht wurde? Wie hat er »zusehen« können, als das Gas ausströmte und die Verbrennungsöfen brannten?

    Oder soll ich mich einfach mit der klassischen theologischen Formel über all das Leid des Holocaust hinwegtrösten: Gott »will« das Leid nicht; er will es aber auch nicht nicht, er lässt es vielmehr nur geschehen: »permittit«, »lässt es zu«. Doch löst das alle Rätsel auf? Nein, das löste gestern so wenig, wie es heute etwas löst.

    Aber Gegenfrage: Sollen dann ausgerechnet wir dieses Urproblem des Menschen aus der Welt schaffen können? Aufgrund welcher neuen Erkenntnisse, aufgrund welcher eigenen Erfahrungen? Es braucht ja nicht unbedingt den Holocaust. Manchmal genügt schon ein beruflicher Misserfolg, eine Krankheit, der Verlust, der Verrat oder der Tod eines einzigen Menschen, um uns in Verzweiflung zu stürzen... 

    Dass »Allmacht« ein missverständliches Attribut Gottes ist, haben wir gehört. Doch ein aller Macht beraubter Gott hörte auf, Gott zu sein. Und die Vorstellung, dass der Gott der Bibel statt gütig und gerecht grausam und willkürlich wäre, ist erst recht unerträglich.

    Wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden: Weder solch vorschnelle Negationen noch jene hochspekulativen Affirmationen lösen das Problem. Welche Vermessenheit des Menschengeistes, ob sie nun im Kleid der theologischen Skepsis, der philosophischen Metaphysik, der idealistischen Geschichtsphilosophie oder der trinitarischen Spekulation daherkommt!

    Vielleicht lernt man es von daher, die Gegenargumente eines Epikur, Bayle, Feuerbach oder Nietzsche gegen solche Theodizee weniger als Blasphemie Gottes zu verstehen denn als Spott über der Menschen und besonders der Theologen Anmaßung. Besser schiene mir an diesem äußersten Punkt, bei dieser schwierigsten Frage, eine Theologie des Schweigens. »Würde ich Ihn kennen, so wäre ich Er«, ist ein altes jüdisches Wort. Und manche jüdische Theologen, die angesichts allen Leids auf eine letzte Rechtfertigung Gottes lieber verzichten, zitieren nur das lapidare Schriftwort, welches auf den Bericht vom Tod der beiden durch Gottes Feuer getöteten Söhne Aarons folgt: »Und Aaron schwieg.«
    Ja, Atheisten und Skeptiker haben recht: Keiner der großen Geister der Menschheit - weder Augustin noch Thomas noch Calvin, weder Leibniz noch Hegel - haben das Urproblem gelöst. »Über das Versagen aller philosophischen Versuche einer Theodizee«: Immanuel Kant schreibt dies 1791, als man in Paris an eine Absetzung Gottes dachte und dessen Ersetzung durch die Göttin Vernunft betrieb.
    Aber ich muss meinen skeptischen Zeitgenossen gegenüber auch die Rückfrage stellen: Ist denn etwa der Atheismus die Lösung? Ein Atheismus, der in Auschwitz sein Faustpfand sähe? Auschwitz - der Fels des Atheismus schlechthin?

    Erklärt denn Gottlosigkeit die Welt besser? Ihre misere und ihre grandeur? Erklärt sie die Welt, wie sie nun einmal ist? Vermag etwa Unglaube in unschuldigem, unbegreiflichem, sinnlosem Leid zu trösten? Als ob an solchem Leid nicht auch alle ungläubige Ratio ihre Grenze hätte! Als ob Auschwitz nicht weitgehend gerade die Tat bereits gott-loser Verbrecher gewesen wäre! Nein, der Antitheologe ist hier keinesfalls besser dran als der Theologe. »Wie also dann« — die Frage möchte ich nicht unbeantwortet lassen - »mit dem Leiden

    Sinnloses Leid nicht theoretisch verstehen,  sondern vertrauend bestehen
    Wir kommen um das ernüchternde Eingeständnis nicht herum: Wenn weder eine theologische noch eine antitheologische »Theorie« das Leid erklärt, dann ist eine andere Grundhaltung gefordert. Es ist meine über Jahrzehnte gewachsene Einsicht, zu der ich bisher keine mich überzeugende Alternative gefunden habe: Leid, übergroßes, unschuldiges, sinnloses Leid lässt sich - im individuellen wie im sozialen Bereich - nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen. Für Christen und Juden gibt es auf das Theodizee-Problem nur eine praktische Antwort. Welche? Juden wie Christen mögen in dieser Frage auf verschiedene und doch zusammenhängende Traditionen verweisen:
    Im äußersten sinnlosen Leid haben Juden, aber auch Christen die Gestalt des Ijob vor Augen, die zweierlei erkennen lässt: Gott ist und bleibt für den Menschen letztlich unbegreiflich, und doch ist dem Menschen die Möglichkeit geschenkt, diesem unbegreiflichen Gott statt Resignation oder Verzweiflung ein unerschütterliches, unbedingtes Vertrauen entgegenzubringen. Von Ijob her können Menschen darauf vertrauen, dass Gott auch des Menschen Protest gegen das Leid respektiert und sich schließlich doch als sein Schöpfer manifestiert, der ihn vom Leiden erlöst.
    Für Christen - und warum schließlich nicht auch für Juden? - scheint im äußersten Leid über die (letzlich doch fiktive) Gestalt des Ijob hinaus die wahrhaft historische Gestalt des leidenden und sterbenden »Gottesknechtes« (vgl. Jes 52,13-53,12), des Schmerzensmannes aus Nazaret, auf. Grünewalds Bild tritt wieder vor uns: Dieses Ausgepeitschtsein und Verhöhntsein, dieses langsame Dahinsterben am Kreuz: Es hat die dreifache furchtbare Erfahrung der Opfer des Holocaust vorausgenommen, jene Erfahrung, dass man von allen Menschen verlassen werden kann, dass man sogar des Menschseins verlustig gehen kann, dass man von Gott selbst aufgegeben werden kann.

    Hatte Jesu Tod einen Sinn? Ich antworte nochmals: Nur von der geglaubten Auferweckung Jesu zu neuem Leben durch und mit Gott kann ein »Sinn« in dieses äußerlich sinnlose, gottverlassene Sterben hineinkommen. Nur aufgrund dieses Glaubens ist der zu Gottes ewigem Leben erweckte Gekreuzigte die Einladung, auch bei anscheinend sinnlosem Leiden auf einen Sinn zu vertrauen und für sich selber in diesem Leben ein Durchstehen und Durchhalten bis zum Ende einzuüben. Also nicht die Erwartung eines Happy End auf Erden wie in der Rahmengeschichte des Ijob, der am Ende sogar - für die Verlorenen - noch mal sieben Söhne und drei Töchter zeugen kann. Sondern ganz radikal das Angebot, selbst im (zur Not bis zum bitteren Ende durchgestandenen) sinnlosen Leiden einen Sinn zu bejahen. Einen verborgenen Sinn, den der Mensch nicht von sich aus entdecken, wohl aber im Licht dieses einen von Gott und Menschen Verlassenen und doch Gerechtfertigten geschenkt erhalten kann. Leiden und Hoffnung gehören für die Schrift unlösbar zusammen! Hoffnung auf einen Gott, der sich trotz allem nicht als launisch-apathischer Willkürgott, sondern als Gott der rettenden Liebe erweisen und durchsetzen wird.

    Ohne dass also das Leiden verniedlicht, uminterpretiert oder glorifiziert oder auch einfach stoisch, apathisch, gefühllos hingenommen wird, lässt sich vom leidenden Gottesknecht Jesus her erkennen und in oft beinahe verzweifelter Hoffnung in Protest und Gebet bekennen,

  • dass Gott auch dann noch, wenn das Leiden scheinbar sinnlos ist, verborgen anwesend bleibt;
  • dass Gott uns zwar nicht vor allem Leid, wohl aber in allem Leid bewahrt;
  • dass wir so, wo immer möglich, Solidarität im Leiden beweisen und es mitzutragen versuchen sollten;
  • ja, dass wir das Leid so nicht nur ertragen, sondern, wo immer möglich, bekämpfen, bekämpfen weniger im Einzelnen als in den leidverursachenden Strukturen und Verhältnissen.
  • Ob dies eine lebbare Antwort ist, die das Leid nicht vergessen, aber verarbeiten hilft, muss jeder, muss jede für sich selbst entscheiden. Betroffen gemacht und ermutigt hat mich die Tatsache, dass selbst in Auschwitz ungezählte Juden und auch einige Christen an den trotz aller Schrecknisse dennoch verborgen anwesenden, an den nicht nur mitleidenden, sondern sich auch erbarmenden Gott geglaubt haben. Sie haben vertraut, und sie haben - was oft übersehen wird - auch gebetet selbst noch in der Hölle von Auschwitz! Unterdessen sind viele erschütternde Zeugnisse gesammelt worden, die beweisen, dass in den KZs nicht nur in aller Heimlichkeit aus dem Talmud rezitiert und Festtage begangen wurden, sondern dass selbst angesichts des Todes im Vertrauen auf Gott gebetet wurde. So berichtet Rabbi Zvi Hirsch Meiseis, wie er am Rösch Haschana, am jüdischen Neujahrstag, heimlich unter Lebensgefahr 1400 zum Tode verurteilten Jungen auf deren Bitten ein letztes Mal den Schofar (»Widderhorn«) blies und, als er ihren Block verließ, ein Junge rief: »Der Rebbe hat unseren Geist gestärkt, indem er uns sagte, dass selbst wenn ein scharfes Schwert an der Gurgel eines Menschen liegt, er nicht an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln solle.

    Ich sage Euch, wir können hoffen, dass die Dinge besser werden, aber wir müssen darauf vorbereitet sein, dass sie schlechter werden. Um Gottes willen, lasst uns nicht vergessen, im letzten Moment das Schema Israel mit Hingabe auszurufen.« So haben denn ungezählte jüdische (und auch einige christliche) Zeitgenossen in den KZs darauf vertraut, dass es einen Sinn hat, das eigene Leid hinzunehmen, den einen verborgenen Gott anzurufen und anderen Menschen, soweit noch möglich, beizustehen. Und weil Menschen sogar in Auschwitz gebetet haben, ist das Gebet nach Auschwitz zwar nicht leichter geworden, aber sinnlos, nein, sinnlos kann es jedenfalls deshalb nicht sein.

    In summa: Die konkrete Frage des »Nicht-Eingreifens« und des »Nicht-verhindert-Habens« durch Gott habe ich mit dieser Antwort theoretisch nicht gelöst, weil ich sie nicht lösen kann. Aber ich habe versucht, sie zu relativieren. Ein mittlerer Weg - scheint mir - ist uns, Christen und Juden, angesichts der ungeheuren Negativität im eigenen Leben und in der Weltgeschichte theologisch angeboten: Auf der einen Seite die Gottlosigkeit jener, die etwa in Auschwitz ihr stärkstes Argument gegen Gott zu finden meinen und die doch nichts erklären. Auf der anderen die Gottgläubigkeit jener, die Orte wie Auschwitz trinitätstheologisch spekulativ verarbeiten, in eine innergöttliche Leidensdialektik hinein aufheben und so die letzte Ursache des Leidens ebenfalls nicht erklären. Dieser mittlere, bescheidene Weg ist der Weg des unerschütterlichen, nicht irrationalen, sondern durchaus vernünftigen grenzenlosen Gottvertrauens - trotz allem: des Glaubens an einen Gott, der das Licht bleibt trotz und in abgrundtiefer Dunkelheit. »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? ... Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Apostel Paulus, der solche Sätze nicht aus hymnischem Überschwang, sondern aus bitterer Leiderfahrung heraus geschrieben hat.

    Doch erst am Ende wird offenbar, was der agnostische jüdische Philosoph Max Horkheimer so sehr von »dem ganz Anderen« erhofft hatte: »dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«. Und auch unsere jüdischen Brüder und Schwestern werden einstimmen können in das, was da im Anschluss an die Propheten auf den letzten Seiten des Neuen Testaments über das Eschaton, das Allerletzte, als Zeugnis der Hoffnung geschrieben steht: »Und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen« (Offb 21,3f)"
     

    Aus H. Küng, Credo, Das apostolische Glaubensbekenntnis, München 1992,S.121 ff..