Home - Religionskritik
Übersicht Religionskritik
Wolfgang Huber (geb.1942 ) ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg 
und war von 2003-2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. 
Eine humane Gesellschaft ohne Religion und Glaube ist für ihn nicht vorstellbar.

 
»Glauben ist mehr als ein Körperzustand«
Interview des EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Wolfgang Huber, mit der ZEIT (12. Mai 2005)
 

DIE ZEIT: Papst Benedikt XVI. beklagt die Erosion des Christentums in Europa. Halten Sie es für möglich, dass wir irgendwann ganz ohne Glauben auskommen?

Wolfgang Huber: Es gibt historisch kein Beispiel für eine glaubensfreie Gesellschaft. Ich rechne auch nicht damit. Ich bin im vergangenen Herbst sehr beeindruckt von einer Reise nach China zurückgekommen, wo man in der Zeit der Kulturrevolution versucht hat, eine religionslose Gesellschaft herbeizuführen. Die chinesischen Christen haben von einer Unterdrückung des Glaubens berichtet, die weit über das hinausgeht, was wir aus Europa kennen. Und trotzdem hat die Religion überdauert; der christliche Glaube erlebt in China derzeit ein ziemlich beachtliches Wachstum. Ich halte eine Gesellschaft ohne Religion auch normativ nicht für wünschenswert. Tocqueville sagte: Die Tyrannei kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht. Damit nahm er ein Denken vorweg, das der Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde in die berühmte Formel gekleidet hat: Der freiheitliche demokratische Rechtsstaat ist auf Voraussetzungen angewiesen, die er nicht selbst hervorzubringen vermag.

ZEIT: Wer nicht an Gott glaubt, glaubt vielleicht an die Wissenschaft oder politische Ideologien. Was unterscheidet einen solchen Glauben vom religiösen Glauben?

Huber: Jeder, der darüber urteilt, tut dies auch nur als Mensch, der immer schon an dieser Frage beteiligt ist. Ich halte es mit Martin Luther: Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott. Dann steht jeder vor der Frage, ob er sein Herz an einen selbst gemachten, selbst gewählten Götzen hängt – oder ob er Gott als den tragenden Grund von Welt und Leben verehrt. In diese kritische Unterscheidung muss sich jeder hineinbegeben.

ZEIT: Kann man von einem »Glauben« an sich sprechen, jenseits kirchlicher Ausprägungen? Und wenn ja, wie könnte man ihn definieren?

Huber: Es ist historisch eine relativ späte Entwicklung, zu meinen, man könne Glauben schlechthin definieren. Aus christlicher Perspektive muss man sagen: Glauben ist immer etwas Bestimmtes, nämlich die menschliche Antwort darauf, dass man von Gott angeredet wird. Diese Beziehung, die Gott von sich aus angefangen hat und die durch Begriffe wie Gnade oder Segen gekennzeichnet ist, ist das Besondere am christlichen Glaubensverständnis. Jede verselbstständigte Definition hat dagegen das Problem, den Glauben als Aktivität zu beschreiben, die den Adressaten selbst hervorbringt. Damit läuft sie in die offenen Messer der Feuerbachschen Religionskritik.

ZEIT: Manche Hirnforscher versuchen neuerdings, religiöse Gefühle mit bestimmten neuronalen Zuständen zu erklären, mit einer Art Gottesmodul im Gehirn. Was halten Sie von solchen Erklärungen?

Huber: Ich habe überhaupt kein Problem damit, dass Glauben eine körperliche Entsprechung hat; ich sehe auch keinen Grund dafür, das als eine Beeinträchtigung des Glaubens anzusehen. Allerdings ist dieser mehr als nur ein körperlicher, somatischer Zustand. Glauben ist nicht ein separierter geistiger Vorgang, sondern ein Lebensakt, der den Menschen in bestimmten Situationen so sehr bestimmt, dass ich mir ohne Schwierigkeiten vorstellen kann, dass man das auch an Hirnströmen nachweisen kann. Insofern sehe ich einen Fehler nur in der Vorstellung, zu meinen, mit solchen Versuchen den Glauben in Gänze erklärt zu haben. Das ist genau derselbe Fehler, mit dem wir es in der ganzen Debatte um die Hirnforschung zu tun haben: Man meint, mit dem Nachweis entsprechender neuronaler Vorgänge sei schon die Freiheit abgeschafft oder der Glaube hinwegdefiniert.

ZEIT: Der Genforscher Dean Hamer behauptet wiederum, es gäbe eine Art »Gottes-Gen« und eine erbliche Disposition für Gläubigkeit. Sind manche aus biologischen Gründen spirituell begabter als andere?

Huber: Das ist der Gedanke von Max Weber, dass manche Menschen »religiös unmusikalisch« seien. Meiner Auffassung nach ist die Unterschiedlichkeit der Menschen eher ein Hinweis darauf, dass manche zu bestimmten Ausdrucksformen des Glaubens einen leichteren Zugang haben als andere. Die einen sind eher zielorientiert, teleologisch; sie neigen zur Aktivität, etwa zur Hinwendung zum Nächsten. Andere haben eher eine meditative Begabung und neigen den mystischen Versenkungen eines Meister Eckarts zu. Deshalb drückt sich Glaube auch immer in einer Pluralität von Frömmigkeitsformen aus. Mir ist sehr wichtig, dass wir das eine nicht gegen das andere ausspielen, sondern die Übergänge als fließend ansehen.

ZEIT: Die Vorstellung, jemand könnte genetisch bedingt glaubensunfähig sein, teilen Sie nicht?

Huber: Das halte ich für eine Form von genetischem Determinismus, den ich generell nicht akzeptiere – also auch im Hinblick auf den Glauben nicht.

ZEIT: In der Menschheitsgeschichte spielt das Religiöse eine wichtige Rolle. Paläoanthropologen sehen rituelle religiöse Betätigungen, wie etwa Begräbnisriten, geradezu als Ausweis modernen menschlichen Denkens an. Die Frage ist: Was war zuerst da, Gott oder das Bedürfnis nach Gott?

Huber: Ein Glaube an Gott, der sich vorstellt, dass dieser Glaube früher da gewesen ist als Gott selbst, ist widersprüchlich. Glaube gewinnt Klarheit nur, indem er sich klar macht, dass Gott vor meiner eigenen Möglichkeit zu glauben gewesen ist. Das kommt im Alten Testament zum Ausdruck. Dort wird die Glaubensgeschichte des Volkes Israel so dargestellt, dass dieser Glaube in der Befreiungserfahrung aus Ägypten zu seiner Klarheit gekommen ist. Aber dieser Glaube muss sich selbstverständlich so auslegen, dass er ein Glaube an den Schöpfer der Welt ist – und nicht etwa derjenige an einen besonderen Stammesgott, den das Volk Israel in Ägypten zufällig gefunden hat.

ZEIT: Aus dem Blickwinkel eines Anthropologen aber hat sich der Glaube an einen monotheistischen Gott historisch entwickelt und auf Vorläuferreligionen aufgebaut.

Huber: Ich hab ja nicht gesagt, dass die Menschheit zu allen Zeiten die Klarheit hatte, von der ich jetzt rede. Auch die Christen hatten diese Klarheit nicht zu allen Zeiten – ich behaupte auch nicht, dass ich sie zu allen Zeiten hätte. Aber im Hinblick auf die Anstrengung des Glaubens scheint mir nur das eben beschriebene Verständnis eine konsequente Konzeption. Wichtig ist aber auch die Feststellung, dass dieser Glaube auf Offenbarung angewiesen ist. Er kann sich also gerade nicht darauf beziehen, dass er sich alles selbst so trefflich ausgedacht hat. Das kommt auch in dem Begriff Religion zum Ausdruck. Er wird oft auf religare (lat., zurückbinden) zurückgeführt. Ich halte es aber für sehr viel wahrscheinlicher, dass Religion ethymologisch zurückgeht auf religere (lat., wieder lesen, etwas immer wieder tun). Man versichert sich eines tragenden Grundes für das eigene Leben dadurch, dass man dieses Grundes in regelmäßig wiederholten Handlungen gewiss wird, dass man Gott in wiederkehrenden Riten und in einem als verbindlich anerkannten Handeln verehrt. Es gehört ja zu den Kennzeichen unserer Zeit, dass diese Dimension des Glaubens wieder verstärkt ins Bewusstsein tritt.



Übersicht Religionskritik
zurück