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Wolfgang Huber (geb.1942 ) ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg 
und war von 2003-2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. 
Eine humane Gesellschaft ohne Religion und Glaube ist für ihn nicht vorstellbar.

 
Religion im 21. Jahrhundert

Glaube und Vernunft

„Soll denn der Knoten der Geschichte so aufgehen, die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei?“ So fragte vor zweihundert Jahren Friedrich Daniel Schleiermacher einen Freund. Dieser Kirchenvater des modernen Protestantismus trat in seinem Leben als Platonübersetzer und Kirchenpolitiker, als Religionsphilosoph und Prediger, als Theologe und Kunsttheoretiker hervor. In all diesen Hinsichten suchte er zu erweisen, daß Vernunft und Glaube grundsätzlich zusammengehören und deshalb auch im Leben zusammengehalten werden müssen. Hellsichtig nahm er wahr, daß die Verbindung von Glauben und Vernunft von unterschiedlichen Seiten aus in Frage gestellt wird. Während auf der einen Seite die Religion sich den Ansprüchen der Vernunft zu entziehen sucht, wird auf der anderen Seite im Namen der Vernunft die Brücke zur Religion abgebrochen. Doch so soll „der Knoten der Geschichte“ nicht aufgehen. Daß der Gott der Philosophen und der Gott der Bibel auseinandertreten könnten, hätte Schleiermacher, der Liebhaber Athens wie Jerusalems, schlicht als Katastrophe empfunden.

Die Verbindung von Glauben und Vernunft gehört zu den bestimmenden Merkmalen des Protestantismus. Für manchen mag das dadurch verdunkelt sein, daß der Reformator Martin Luther sich unter Einsatz all seiner polemischen Kraft gegen einen Herrschaftsanspruch der Philosophie über die biblische Botschaft zur Wehr setzte und dabei auch vor der Rede von der „Hure Vernunft“ nicht zurückschreckte.

Philosophische Welt und biblisches Denken
Doch Luther war, ebenso wie die anderen Reformatoren, zugleich von der Überzeugung bestimmt, daß die Vernunft mit all ihrem Vermögen der Erkenntnis der biblischen Wahrheit zu dienen habe. Schon der junge Luther erklärte deshalb in seinem Kommentar zum Römerbrief, daß die Vernunft „für das Beste“ eintrete und „gute Werke“ tue. Und der höchste Titel, den er für sich selbst gelten ließ, war derjenige eines „Doctors der Heiligen Schrift“. Damit bahnte die Reformation der Ausbildung der Theologie zu einer kritischen Wissenschaft im modernen Sinn ebenso den Weg, wie sie die Verbindung von Glauben und Bildung in das Zentrum des kirchlichen Auftrags rückte.

Die für den Protestantismus unaufgebbare Achse zwischen philosophischer Welt und biblischem Denken zeigt sich in bisweilen überraschendem Maß in der theologischen Literatur des 17. Jahrhunderts, das zwischen dem Jahrhundert der Reformation und dem der Aufklärung vermittelt. Sie zeigt sich erst recht in der Theologie der Aufklärungszeit. Dennoch ist es genau diese Zeit, die Schleiermachers Sorge weckt, es könne auseinandertreten, was doch zusammengehört.

Gegengift gegen den Geist der Moderne
Diese Sorge, in die sich durchaus auch eine Spur heiligen Zornes mischt, ist durch zwei Entwicklungen bestimmt. Die eine Entwicklung kommt aus Frankreich und folgt einem philosophischen Materialismus, der die Religion in das Reich des Irrationalen verbannen will. Die andere kommt aus dem Christentum selbst und ist von der Angst vor der Moderne geleitet. In einem Geist der Abschottung werden hier Einsichten von Bibelkritik und kirchengeschichtlicher Forschung genauso verdammt wie neue Entdeckungen der Naturwissenschaft. Der christliche Glaube soll nach dieser Auffassung als Gegengift gegen den Geist der Moderne wirken und eine vermeintlich heilsame Ausflucht aus den Anforderungen der Zeit bewirken.

Hellsichtig beschreibt Schleiermacher schon in seinen berühmten „Reden über die Religion“ aus dem Jahr 1799, worin die Folge dieser Entwicklung besteht. Die Religion sucht sich neue Felder, auf denen sie der Infragestellung durch die Moderne scheinbar entkommt: den Rückzugsraum des bürgerlichen Wohnzimmers mit seiner Geschmacks- und Unterhaltungsreligion einerseits und andererseits den übersteigerten Glauben an die Nation.
 

Knoten der Geschichte
Solche Auswanderungsbewegungen des Religiösen, wie der Kirchenvater des modernen Protestantismus sie an der Wende zum 19. Jahrhundert diagnostiziert, üben auch heute noch ihren Einfluß aus. Immer wieder machen sich Tendenzen zur Ästhetisierung wie zur Politisierung der Religion breit. Im einen Fall wird die Religion zu einer privaten Sinnsuche in der Welt des Schönen und Erhabenen, im anderen wird sie zum Medium des Bürgerkriegs. Die eine Gestalt des Religiösen spinnt sich in einer hochindividualisierten Welt ein; die andere sucht die Masse und meidet jegliche Differenzierung. Beide Gestalten religiöser Sinnsuche haben eines gemeinsam: Sie scheuen den Kontakt zur vernünftigen Seite des Glaubens. Dieser Kontakt aber hat notwendigerweise mit kritischer Urteilskraft, mit wissenschaftlichem Dialog und mit Verantwortung vor dem Forum der öffentlichen Vernunft zu tun.

Ästhetisierung und Politisierung der Religion lassen keine der drei großen Überlieferungsformen des christlichen Glaubens – Katholizismus, Orthodoxie und Protestantismus – unberührt. Doch aus guten Gründen ist Schleiermacher davon überzeugt, daß der Protestantismus sich selbst von innen heraus auflöste, sollte der Knoten der Geschichte in einer solchen Weise aufgehen. Denn der Protestantismus ist aus streng theologischen Gründen auf die enge Verbindung von Glauben und Vernunft angewiesen. Das gilt um des Glaubens willen, der subjektiv angeeignet, also verstanden werden will; und es gilt um der Vernunft willen, für die der Stachel kritischer Selbstreflexion unentbehrlich ist, damit sie ihre Endlichkeit weder vergißt noch verleugnet.
 

Konzentration mit Folgen
In seiner evangelischen Gestalt konzentriert sich der christliche Glaube darauf, daß Jesus Christus die Wahrheit des Evangeliums in Person ist. Diese Wahrheit befreit den Menschen aus der Selbsttäuschung, er verdanke sein Leben sich selbst und könne ihm aus eigener Kraft einen bleibenden Sinn verleihen. Sie verankert die Würde des Menschen in der Wirklichkeit Gottes und somit in einer Macht, die größer ist als er selbst; nur deshalb kann diese Würde als unantastbar gelten. Deshalb konzentriert sich die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens seit der Reformation bis zum heutigen Tag auf das Thema der christlichen Freiheit; die evangelische Kirche versteht sich als eine Kirche der Freiheit.

Diese Konzentration hat erhebliche Folgen. Zu ihnen zählt, daß der zur Freiheit Berufene Auskunft geben können soll über den Glauben, durch den er diese Freiheit empfängt. Die Freiheit des christlichen Glaubens fordert deshalb, sich seiner Vernunft zu bedienen. Das zu tun ist ein wesentliches Kennzeichen der Freiheit selbst. Denn so wie sich der Mensch als individuelle Person unvertretbar von Gott angesprochen weiß, ist er auch unvertretbar zeugnis- und auskunftspflichtig.

Die Pflicht dazu kann an keine noch so gelehrte oder mächtige Instanz in oder außerhalb der Kirche delegiert werden. Denn sich ausschließlich auf die Vernunft anderer zu verlassen ist mit der Entdeckung des Gewissens und seiner Freiheit, dieser besonderen Errungenschaft der Reformation, nicht zu vereinbaren. Deshalb ist das Verhältnis von Glaube und Vernunft im evangelischen Verständnis immer wieder in Anknüpfung an eine berühmte Formel des Anselm von Canterbury zum Ausdruck gebracht worden: „Neque enim quaero intelligere ut credam sed credo ut intelligam. Fides quaerens intellectum. – Nicht suche ich nämlich einzusehen, um zu glauben. Sondern ich glaube, um einzusehen. Der Glaube auf der Suche nach Einsicht.“
 

Weltwissen und Gottesglauben
Die Einsicht des Glaubens hat beim Glauben selbst einzusetzen. Von ihm her erschließt sich, was die Vernunft im Kontext des Glaubens aufzuklären vermag. Deshalb hat Eberhard Jüngel vorgeschlagen, Anselms Rede von der „fides quaerens intellectum“ zu ergänzen und der Klarheit halber von einer „fides quaerens intellectum quaerentem fidem“ zu sprechen: Der Glaube ist auf der Suche nach Einsicht, die ihrerseits auf der Suche nach dem Glauben ist. Eine nicht durch den Glauben aufgeklärte Vernunft bleibt unerfahren und unaufgeklärt, weil sie sich keine Rechenschaft über ihre Grenzen ablegt. Sie verkennt ihren Charakter als endliche Vernunft, dem Menschen anvertraut, damit er mit seiner endlichen Freiheit umzugehen lerne. Ein nicht durch die Vernunft aufgehellter Glaube aber trägt die Gefahr in sich, barbarisch und gewalttätig zu werden. Statt dessen ist es nötig, die wechselseitige Verwiesenheit von Vernunft und Glaube immer wieder neu zu entfalten.

„Die Grundentscheidungen, die den Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betreffen, die gehören zu diesem Glauben selbst und sind seine ihm gemäße Entfaltung“, hat Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung zu Recht festgestellt. Man braucht sich freilich nicht auf einen vorneuzeitlichen, „griechischen“ Vernunftbegriff zu beschränken, um diese Aussage aus vollem Herzen zu bejahen. Auch die neuzeitlichen Bemühungen um die Zusammengehörigkeit von Vernunft und Glauben lassen sich von hier aus verstehen; eigene Bemühungen lassen sich daran anschließen. Denn der Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft muß immer wieder neu entfaltet und ausgelegt werden. Nur in einer solchen, immer wieder erneuerten Aneignung bewahrt er vor einer glaubenslosen Vernunft ebenso wie vor einem vernunftlosen Glauben.

Dieser innere Zusammenhang von Glaube und Vernunft versteht sich keineswegs von selbst. Gegen ihn steht, wie es scheint, ganz besonders die kopernikanische Wende der Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants zum Subjekt als dem unhintergehbaren Ausgangspunkt alles Weltwissens. Besonders folgenreich war es, daß man diesen von Kant vollzogenen Schritt im Sinn einer definitiven Trennung zwischen Weltwissen und Gottesglauben gedeutet hat. Charakteristisch dafür sind die Mißverständnisse, die Kants berühmtes Diktum auf sich gezogen hat, er habe „das Wissen aufheben“ müssen, „um zum Glauben Platz zu bekommen“. Es ist durchaus angezeigt, diese Passage aus Kants Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ im Wortlaut zu zitieren, nachdem sie durch Papst Benedikt XVI. in der Fassung wiedergegeben wurde, Kant „habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen“.

Kant jedoch stellt den Gottesgedanken mit seinen Worten nicht außerhalb des Denkens, und er besetzt nicht einen dadurch entstehenden, vermeintlich vernunftlosen Raum durch den Glauben. Vielmehr befreit er den Gottesgedanken aus dem Einzugsbereich des Erfahrungswissens, das sich der Mittel der Beobachtung und des Beweises bedient. Er zeigt, daß Gott den Rahmen unserer raumzeitlich geprägten Weltzugänge prinzipiell übersteigt.
 

Erfüllungsgehilfe der protestantischen Ethik
Damit wird nicht die Idee Gottes, sondern die Reichweite der Erfahrungswissenschaften eingeschränkt. Die Versuche, Gott als notwendige Ursache aus den Gesetzen der Welt abzuleiten, werden damit hinfällig. Gottes Überlegenheit über die Schöpfung wird dadurch neu zur Sprache gebracht. So reißt Kant Vernunft und Glauben nicht etwa auseinander, sondern bahnt einen Weg dazu, daß der Gottesgedanke auch vor dem Forum der philosophischen Vernunft Bestand haben kann. Man mag diesen Weg als problematisch ansehen; aber man sollte sich jedenfalls nicht auf die Aufklärungsphilosophie im Sinne Kants berufen, um die These zu begründen, die Aufklärung habe die Verbindung zwischen Vernunft und Glauben definitiv aufgelöst.

Das christliche Verständnis von Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt fügt sich in einen solchen Zugang zum Gottesbegriff durchaus ein. Die verbreitete Rede vom bloßen „Postulatengott“, der nur noch vage innerphilosophische Funktion für die praktische Vernunft habe und als eine Art „Erfüllungsgehilfe der protestantischen Ethik“ diene, unterschätzt die Bedeutung der Gottesidee für die Freiheit der Person. Im Sinne Kants ist Gott der umfassende Horizont jeglichen Tuns, auch für das theoretische Nachdenken. Der einigende Grund der Welt, der einzig Aussicht darauf gibt, daß Leben glücken kann, schließt so auch die Welt der Wissenschaft und der wissenschaftlich angeleiteten Erfahrung ein. Dem Glauben wird auf diese Weise keineswegs, wie Papst Benedikt XVI. befürchtet, „der Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen“. Nein, er ist dieser Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit. Indem er das Verhältnis zur Wirklichkeit im Gottesverhältnis verankert, eröffnet er einen Zugang zur inneren Einheit des Daseins, in welchem das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zur Welt miteinander verbunden ist.
 

Ein gravierendes Mißverständnis
Der Glaube wird in einer solchen Überlegung als eine Einstellung zur Wirklichkeit verstanden, die allem Wissen vorausliegt. Doch es ist ein gravierendes Mißverständnis, den Glauben deshalb für irrational zu erklären oder in die Kammer des bloßen Fühlens und Meinens zu sperren. Daß er freilich mehr in sich schließt als die bloße Kenntnisnahme richtiger Lehrsätze, ist gerade im evangelischen Verständnis des Glaubens immer in starker Form herausgearbeitet worden.

Denn der Glaube ist in der Tat nicht nur eine im Wissen beheimatete Gewißheit, sondern er ist eine umfassende Daseinsgewißheit. Zu ihr gehört das Vertrauen in die Gegenwartsmächtigkeit Gottes ebenso hinzu wie die innere Zustimmung dazu, sich im eigenen Leben von der Gegenwart Gottes bestimmen zu lassen. In Gott erschließt sich für den Glaubenden der umfassende Sinn, auf den er für den Umgang mit der Endlichkeit seiner Existenz im ganzen wie für alles Handeln unter den Bedingungen dieser Endlichkeit angewiesen ist. Damit eröffnet er die Einsicht, daß der Mensch auch als Vernunftwesen nur frei sein kann, wenn er sich von einem anderen her bestimmen läßt. In dieser Einsicht findet die Freiheit eines Christenmenschen eine durchaus moderne Fassung.

Ist ein in diesem präzisen Sinn modernes, durch die Reformation und ihre neuzeitliche Wirkungsgeschichte geformtes Glaubensverständnis zwangsläufig eine Reduktion des Christentums auf ein „armseliges Fragmentstück“? Vor allem den großen evangelischen Kirchenhistoriker Adolf von Harnack hat Papst Benedikt zum Beispiel für eine solche Reduktion gewählt. Nun trifft der Hinweis auf das Bruchstückhafte unseres Erkennens alle Theologie. Sie steht in all ihren Formen unter dem Vorbehalt des Apostels Paulus: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13,12 f.).

Mit großer Kühnheit wird hier dem Glauben, der Hoffnung, der Liebe selbst ein fragmentarischer, bruchstückhafter Charakter zugesprochen; gerade darin sind sie Vorzeichen der Fülle, die erst noch kommt. Wenn das sogar für Glauben, Hoffnung und Liebe gilt – für jene Haltungen, die in der theologischen Tradition „theologische Tugenden“ heißen –, wieviel mehr dann für die Vernunft, mit deren Hilfe der Glaube auf der Suche nach Einsicht ist.
 

Unaufhaltsame Verhängnisgeschichte
Dennoch ist diese Vernunft immer wieder darauf aus, sich dem Ganzen der Wahrheit zu nähern. Und es geschieht auch immer wieder, daß sie dahinter über das Maß des Unausweichlichen hinaus zurückbleibt – etwa dann, wenn sie den Glauben der Herrschaft des Erfahrungswissens in der Gestalt der modernen Naturwissenschaft einfach unterstellt. Doch besteht kein zwingender Grund dazu, eine solche Auflösung des Bündnisses von Vernunft und Glauben unter der Überschrift eines „Enthellenisierungsprogramms“ wie eine unaufhaltsame Verhängnisgeschichte zu betrachten und für dieses Verhängnis Reformation und Aufklärung in herausgehobenem Sinn zu Schuldigen zu erklären.

Engführungen hat es in der Epoche evangelischer Theologie, für die Adolf von Harnack stand, ganz gewiß gegeben. Sie haben deshalb Erneuerungsbewegungen provoziert, deren Repräsentanten vor allem Karl Barth und die Dialektische Theologie waren. Inzwischen entdecken wir auch deren fragmentarischen Charakter und bemühen uns darum, auch über deren Engführungen hinauszudenken. Auch die Theologie ist ein Feld, auf dem sich die Einsicht in den geschichtlichen Charakter der menschlichen Vernunft bewährt.
 

Auf der Suche nach Einsicht
Gewiß ist der Relativismus eine besondere Gefährdung der Moderne. Und ganz gewiß hat er das Lebensgefühl in Europa in der zurückliegenden Generation auf beunruhigende Weise geprägt. Doch man braucht nicht dem neuzeitlichen Vernunftbegriff insgesamt den Abschied zu geben, um sich der Gegenkraft zu vergewissern, die gegen einen solchen Relativismus in Anspruch genommen werden kann: Glaube auf der Suche nach Einsicht.

Der so verstandene Glaube ist alles andere als unpersönlich. Denn der christliche Glaube leitet dazu an, den Begriff Gottes von der Menschwerdung Gottes her zu denken; der christliche Glaube hat seine innere Bestimmtheit darin, daß Gott als Person begegnet, als die Person des Jesus von Nazareth. Aus dem darin begründeten Vertrauen in die Zugänglichkeit Gottes ergibt sich im christlichen Verständnis die unlösliche Verbindung zwischen Gott und der Vernunft.

Man muß die Entsprechung zwischen Gott und Mensch, die Gott selbst in seiner Menschwerdung manifest werden läßt, im Gottesbegriff selbst verankern und deshalb die Zusammengehörigkeit zwischen Gott und Vernunft zur Geltung bringen. Wo immer das Vernunftwidrige im Namen Gottes begründet oder gerechtfertigt wird, ist deshalb Widerspruch angesagt. Darauf hat Papst Benedikt XVI. aufmerksam gemacht, als er eine Argumentation gegen „Bekehrung durch Gewalt“ vortrug, die bereits auf das Jahr 1391 zurückgeht.

Selbstkritisch gegen alle Gewaltanwendung
Diese Einsicht muß freilich keineswegs nur gegenüber der Gewaltneigung im Islam geltend gemacht werden. Sie ist vielmehr auch selbstkritisch gegen alle Gewaltanwendung, erst recht gegen jede Bekehrung durch Gewalt in der Geschichte des Christentums zu wenden. Es war eine Verarbeitung solcher geschichtlicher Erfahrungen, daß die Reformation es zum Programmsatz erhob, daß das Evangelium „ohne Zwang, allein durch das Wort“ ausgebreitet werden solle.

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz hat diese Einsicht unlängst auf kluge Weise aufgenommen. Ausdrücklich hat sie erklärt, daß auch die christlichen Kirchen aus ihrer Geschichte die Versuchung der Gewalt kennen und ihr keineswegs immer widerstanden haben. Eine solche selbstkritische Haltung bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, an den Islam mit der Erwartung heranzutreten, daß er der religiösen Legitimation von Gewalt und der Instrumentalisierung von religiösen Überzeugungen zu politischen Zwecken deutlich und wirksam entgegentritt.

Eine solche Überlegung über die Zusammengehörigkeit von Gott und Vernunft enthält freilich keinen letztlich überzeugenden Grund dafür, diese Zusammengehörigkeit gegen den Respekt gegenüber einem göttlichen Wollen auszuspielen. Dieses besteht, wie die biblische Auslegung der Menschwerdung Gottes eindrücklich nahelegt, darin, daß Gottes Wollen Liebe ist. Diese Liebe gilt jedem einzelnen Menschen und verleiht ihm einen unendlichen Wert, eine unantastbare Würde. Diese Liebe verbürgt, daß Gott es mit seiner Welt trotz des abgründig Bösen, das in ihr begegnet, und mit dem Menschen trotz der Sünde, in die er verstrickt ist, gut meint. Gottes Treue zu seiner Schöpfung und die Rettung des Sünders durch Gottes Gnade bestimmen den Ort des Menschen in der Welt. Sie bestimmen den Auftrag des einzelnen Menschen, von dieser Vorgabe des Glaubens her den Sinn seines Lebens zu verstehen und die Aufgaben seines Lebens zu erfüllen.
 

Leben in Relationen
Das ist der Zusammenhang, in dem im christlichen Sinn vom Individuum zu reden ist. Es ist zugleich der Grund, aus dem schon die Reformatoren, aber ebenso auch neuzeitliche protestantische Denker wie Kant oder Schleiermacher ein emphatisches Verhältnis zum Individuum entwickelten. Dabei war stets deutlich, daß dieses Individuum nicht eine von den anderen Menschen und der Welt abgesonderte „Privatperson“ ist. Vielmehr vollzieht sich sein Leben in Relationen – im Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt und in alldem im Verhältnis zu Gott.

Das vorausgesetzt muß man die starken Gründe respektieren, die gegen eine Ausgestaltung des religiösen Lebens sprechen, die das Individuum nicht achtet. Jeder Christenmensch ist dazu berufen, sich in seinem Glauben über sich selbst aufzuklären. Selbstverständlich kann er das nicht ausschließlich im Selbstgespräch; denn woher sollten dann neue Anregungen und andere Perspektiven kommen? Christ ist man nicht allein, sondern im lebendigen Austausch einer Gemeinschaft. Für das Bekenntnis des Glaubens gilt stets die erste Person: „Ich glaube . . . “, heißt es im Glaubensbekenntnis.

Wenn die erste Person Singular sich in die erste Person Plural verwandelt, dann deswegen, weil der einzelne einstimmt in das gemeinsame Bekennen, in den Vollzug der Liturgie oder in die Worte des Gebets. Aber auch in dieser Hinsicht gilt der Grundsatz: „Nicht durch Zwang, allein durch das Wort.“ Das gemeinsame Bekenntnis des Glaubens ist ein Akt des freiwilligen Einstimmens.
 

Im Eigenen beheimatet
Freiwilliges Einstimmen setzt Bildung voraus. Wenn man den Protestantismus eine Bildungsreligion genannt hat, dann liegt die Ursache dafür in der ihm eigentümlichen positiven Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben. Der Protestantismus orientiert sich am Leitbild des mündigen Christen, der in der Lage ist, über seinen Glauben Auskunft zu geben. Wer die Rolle des Glaubens für die Vernunft und die Rolle der Vernunft für den Glauben ernst nimmt, der wird nicht annehmen, daß religiöse Bildung sich in aufsagbarem Wissen erschöpft – sosehr man wünschen möchte, daß Christen wieder mit größerer Selbstverständlichkeit einen Kanon von biblischen Texten, Bekenntnissen, Liedern und Gebeten ihr eigen nennen. Ein gebildeter Christenmensch ist jedoch zugleich in der Lage, das persönliche Leben mit einem umfassenden Lebenssinn zu verknüpfen und anderen davon Zeugnis zu geben.

Das schließt die Beheimatung im Eigenen wie die Wahrnehmung des Fremden ein. Der Zugang zum Glaubenswissen der eigenen Religion muß sich heute mit einer Wahrnehmungsfähigkeit für andere Religionen verbinden. Auch die Arbeit der Theologie muß von dieser Doppelaufgabe her wahrgenommen werden. Neben die individuelle Vernunft tritt in Gestalt der Theologie die wissenschaftliche Vernunft.

Wissenschaftliche Theologie ist für die Selbstvergewisserung des Glaubens und damit für die Kirche unentbehrlich. Die Kirche ist stets auf die gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Quellen und Klassikern des christlichen Glaubens angewiesen. Sie braucht die gründliche Erarbeitung ihrer Geschichte und den Stachel, der darin liegt, daß liebgewordene Ansichten als Irrtümer erkannt werden.
 

Kritische Bündnispartnerin des Glaubens 
Aber nicht nur die individuelle und die wissenschaftliche, sondern auch die öffentliche Vernunft ist eine kritische Bündnispartnerin des Glaubens. Gewiß zeigen sich die Glaubwürdigkeit und die Anziehungskraft des Glaubens zuallererst in der religiösen Praxis, in gehaltvollen Gottesdiensten, in der diakonischen Zuwendung zu den Schwachen, im verantwortlichen Handeln eines jeden in seinem Beruf. Doch notwendig ist ebenso der öffentliche Dialog über den Sinn des christlichen Glaubens und seine praktischen Folgen. Wenn beispielsweise Kunst und Religion einander ins Gehege kommen, weil künstlerische Freiheit und religiöse Gefühle aufeinanderstoßen, dann muß eine ebenso offene wie differenzierte Debatte erfolgen, weil unsere Freiheit Religion und Kunst zugleich umfaßt. Die bisweilen mangelnde Auseinandersetzung kirchlicher Kreise mit der Kunst der Gegenwart muß dann genauso zum Thema werden wie das bisweilen allzu schlichte Niveau künstlerischer oder intellektueller Religionskritik.

Die kritische Begleitung des Glaubens durch die Vernunft hat nicht zuletzt Konsequenzen für das Verständnis der Kirche. Die Kirche verkündigt die Wahrheit, die ihr anvertraut ist, nicht nur anderen. Sie ist als Gemeinschaft der Glaubenden vielmehr auch selbst die Adressatin dieser Wahrheit. Sie herrscht nicht über diese Wahrheit, sondern dient ihr; sie verfügt nicht über sie, sondern bleibt auch selbst hinter ihr zurück. Deshalb muß sie ihr eigenes Handeln und ihre Gestalt immer wieder in das Licht der Glaubenswahrheit rücken. Sie steht selbst in der Geschichte und ist mit der Wahrheit, die alle Geschichte übersteigt, nicht identisch. Sie muß sich ihrer Geschichtlichkeit bewußt sein und darf sich nicht selber schonen, wenn es darum geht, die eigene Schuld zu bekennen.
 

Zäh hat sich die Gewalt festgesetzt
Wie lange hat es gedauert, bis die Christenheit ihr Verhältnis zum säkularen Staat bestimmt, die Menschenrechte bejaht oder mit der Demokratie als Lebensform Frieden geschlossen hat? Dabei waren das alles Entwicklungen, die dem christlichen Glauben selbst den entscheidenden Impuls verdankten – und doch waren die damit verbundenen kirchlichen Lernprozesse allzu zögerlich. Wie zäh haben sich Formen der Gewalt im Christentum festgesetzt! Wie tief hatte sich der Antijudaismus in unsere Glaubensvorstellungen gefressen! Das Verhältnis von Vernunft und Glaube schließt dunkle Kapitel ein.

Auch im Dialog mit dem Islam sind diese Kapitel nicht zu verschweigen. Wenn der Islam, der über weite Strecken eine Religion der Herrschaft ist, dem Frieden dienen soll, den sein Name enthält, dann muß das Christentum, das eine Religion der Liebe ist, auch von den Verschattungen dieser Liebe in seiner eigenen Geschichte sprechen. Nur so kann für die heilsame Verbindung von Vernunft und Glaube geworben werden. Eine Kirche, die ihre Geschichte auch im Licht solcher heilsamer Revisionen und Reformationen sieht, wird sich auch in Zukunft für bessere Einsichten öffnen. Sie wird um der Zusammengehörigkeit von Vernunft und Glaube willen in der Bereitschaft zur Erneuerung eine bleibende Verpflichtung sehen – ecclesia semper reformanda.



Der Verfasser ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).  


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