Aus "Diesseits" 2-2000
zurück
Armin Pfahl-Traughber

Also sprach Nietzsche: "Gott ist tot!"

...

"Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt - ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen ... Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist - ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit ..." Diese wortgewaltigen Sätze finden sich gegen Ende der 1888 fertiggestellten und 1895 erschienenen Schrift "Der Antichrist. Fluch auf das Christentum" von Friedrich Nietzsche. Der Philosoph artikulierte darin seine fundamentale Ablehnung des Christentums. Doch wie kam er zu dieser Auffassung und wie begründete er sie? Und: War sie im Sinne eines humanistischen Atheismus motiviert?
 

Leben und Werk
Geboren wurde Friedrich Nietzsche 1844 als Pfarrersohn, wuchs protestantisch sozialisiert auf und sah sich bereits als Kind tief von der Bibel geprägt an. Im frühen Bewusstsein des Andersseins und der Einsamkeit interessierte er sich schon in jungen Jahren intensiv für Fragen der Kunst, Philologie und Philosophie. Bereits in der Schulzeit scheinen indessen auch erste Zweifel an der christlichen Religion aufgekommen zu sein. Entdeckte Nietzsche doch aufgrund seiner logischen Schulung schnell Widersprüche in den Glaubenslehren der Bibel. Indessen vollzog sich sein Bruch mit dem Christentum nicht unmittelbar, sondern erst später in einem langwierigen individuellen Lernprozess.

1864 begann Nietzsche das Studium der Theologie und klassischen Philologie an der Universität Bonn, das er 1865 in Leipzig fortsetzte. Bestehende Zweifel am Christentum wurden durch die konzentrierte inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Lehren und der Quellenkritik des Neuen Testaments weiter verstärkt. Noch vor dem offiziellen Abschluss der universitären Ausbildung berief man den erst 24-jährigen 1869 als außerordentlichen Professor der klassischen Philologie an die Universität Basel. Neben seinen Vorlesungen entstand dann zwischen 1869 und 1871 die 1872 erschienene erste philosophische Schrift "Die Geburt der Tragödie", worin Nietzsche zunächst das für seine Philosophie zentrale Kategorien bildende Begriffspaar appolinisch und dionysisch entwickelte. Darunter verstand er Lebensformen, die bei der erstgenannten für Harmonie und Schönheit und bei der zweiten für Ekstase und Rausch standen.

Nietzsche beklagte den Niedergang und erhoffte sich die Wiederkehr des Dionysischen. Noch gegen Ende seines Lebens sah er in Dionysos die Verheißung und im Gekreuzigten den Fluch auf das Leben. Eine andere für sein philosophisches Denken zentrale Aussage in der Schrift verbindet sich mit der dort formulierten Kritik an Sokrates, der als rationalistischer und zweifelnder Geist nicht nur als Zerstörer des Kunstwerkes der griechischen Tragödie, sondern auch als Zersetzer der abendländischen Kultur dargestellt wurde. Mit ihm seien das Zeitalter der Abstraktion, Aufklärung, Logik und Vernunft begründet und menschliche Instinkte, Intuitionen und Triebe zurückgedrängt worden. Die Schrift stieß in Kollegenkreisen auf keine sonderlich Begeisterung, allzu apodiktisch, oberflächlich und subjektiv erwies sich für viele die "Geburt der Tragödie".

Zwischen 1873 und 1876 entstanden die vier "Unzeitgemäßen Betrachtungen", darin Nietzsches Stellungnahmen zu den Themen: "David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller", "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", "Schopenhauer als Erzieher" und "Richard Wagner in Bayreuth". Insbesondere von den beiden letztgenannten Personen zeigte sich der Philosoph lange Zeit stark beeindruckt. Mit dem Komponisten verband ihn eine langjährige Freundschaft, die allerdings 1878 an persönlicher Rivalität und Wagners Hinwendung zum Christentum zerbrach. 1879 musste Nietzsche nach der Verschlimmerung einer ihn bereits seit Jahren quälenden Erkrankung endgültig sein Lehramt an der Universität Basel aufgeben. Das damit verbundene gesundheitliche Befinden erklärt unter anderem das sich in den folgenden Veröffentlichungen ins Maßlose steigernde Sendungsbewusstsein des sich auch selbst überschätzenden Nietzsche.

"Gott ist tot!"
1880 entsteht "Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister", eine Sammlung von Aphorismen und Kurzbeiträgen, und zwischen 1880 und 1881 die Schrift "Morgenröte" als publizistische Kampfansage an die vorherrschende Moral. Zwischen 1881 und 1882 arbeitete Nietzsche an dem Buch "Die fröhliche Wissenschaft", das den bekannten Satz "Gott ist tot!" enthält. Wichtig ist es aber für das Verständnis Nietzsches in der damit verbundenen Frage auch weiter zu lesen, heißt es an dieser Stelle doch: "Gott bleibt tot: Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab?" Nietzsche geht - zumindest in dieser Passage - also durchaus von einer Existenz Gottes als verehrungswertem Wesen aus und stellt lediglich dessen Tod fest. Von einer existentiellen Leugnung kann hier ebenso wenig die Rede sein wie von einer philosophischen Tötung.

Zwischen 1883 und 1884 entstand Nietzsches wohl bekanntestes Werk "Also sprach Zarathustra", worin er einerseits frühere Auffassungen und Themen wieder aufgriff und andererseits neue für seine Philosophie zentrale Begriffe und Positionen entwickelte. Hierzu gehört insbesondere der Gedanke der ewigen Wiederkehr und die Idee des Übermenschen. Die Tugend von letzterem soll für Nietzsche der Kampf und nicht die Reflexion sein. Macht gilt ihm als das eigentliche Ziel des Lebens und der Wille als dessen eigentliches Handlungsprinzip. Damit wies Nietzsche wie Schopenhauer nicht der Vernunft, sondern dem Willen zentrale Bedeutung für den Menschen zu, allerdings nicht im verneinenden Sinne wie sein zeitweiliges philosophisches Vorbild, sondern bejahend gesteigert im "Willen zur Macht". Über ihn verfügt der Übermensch bei Nietzsche nicht durch biologische Auslese - wie im rassistischen Diskurs -, sondern durch eigene Entscheidung. So ist denn auch die Feststellung "Gott ist tot" zu deuten: Nach dem von ihm vorgegebenen "Du sollst!" ist jetzt die Handlungsweise des "Ich will!" möglich.

Aus dieser Haltung ergibt sich auch Nietzsches Negierung von ihm als christlich angesehener Wertvorstellungen wie etwa dem Mitleid. Es vermehre, so die Aussagen im "Antichrist", das Leiden auf der Welt, würden dadurch doch nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Anderen leiden müssen. Daher sah der Philosoph das Mitleid auch als lebensfeindlich und nihilistisch an. Es störe die Welt bejahenden Kräfte, den Willen zur Macht und den Aufstieg des Übermenschen. Mit den Parolen der Gleichheit, der Gerechtigkeit und des Mitleids würden die Elenden, Missratenen und zu kurz gekommenen ihren eigenen Machtanspruch gegen die kraftvollen und lebensbejahenden Naturen durchsetzen wollen. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch viele politische Auffassungen Nietzsches, etwa die Ablehnung der Demokratie, des Liberalismus und Sozialismus, aber auch die Bejahung einer Eliteherrschaft, einer neuen Aristokratie von Übermenschen.
 

Geistiger Zusammenbruch
Zwischen 1884 und 1885 entsteht "Jenseits von Gut und Böse" und 1887 "Genealogie der Moral" - beides weitere Beiträge zur philosophischen Demontage der bestehenden Moral, die hinsichtlich ihrer Bedingungsverhältnisse aus den Interessen und Ressentiments der Schwachen abgeleitet wird. 1888 stellt der Philosoph noch verschiedene letzte Schriften fertig, die frühere Auffassungen und Themen kommentieren und fortführen: "Der Fall Wagner", "Götzendämmerung", "Der Antichrist", "Ecce Homo" und "Nietzsche contra Wagner". 1889 erleidet Nietzsche in Turin einen Nervenzusammenbruch und lebt bis zu seinem Tod 1900 in geistiger Umnachtung bei seiner Schwester Elisabeth Förster. Die mit einem damals bekannten antisemitischen und völkischen Agitator Verheiratete fälschte eine Reihe von Nietzsches Schriften ideologisch in diesem Sinne um. Von daher versuchten auch später die Nationalsozialisten Nietzsche als einen ihrer ideologischen Wegbereiter zu vereinnahmen, was sicherlich in dieser Pauschalität nicht haltbar ist. Gleichwohl bestehen hinsichtlich der Ablehnung der Wertvorstellungen der Demokratie ebenso wie bei der Beschwörung des Willens zur Macht durch einen Übermenschen durchaus Gemeinsamkeiten.

Im Unterschied zu den meisten anderen Philosophen nicht nur seiner Zeit gibt es von Nietzsche keine zusammenfassende systematische Darstellung seiner Philosophie. Das Werk ist stark subjektiv geprägt und von apodiktischen Setzungen durchdrungen, ihm mangelt es an inhaltlicher Eindeutigkeit, Systematik und Widerspruchsfreiheit. Dies gilt etwa auch für das Zitat "Gott ist tot!", das auch anders als im dort vorgetragenen Sinne interpretiert wurde, wie die Versuche bezeugen, ihm selbst einen christlichen Sinn abzugewinnen. Indessen löste trotz der zahlreichen inhaltlichen Schwächen der rhetorische Schwung seines Schreibstils und die provokative Zuspitzung seiner Positionen immer wieder Faszination im positiven wie negativen Sinne aus. Hinzu kamen manche prophetisch wirkenden Aussagen wie etwa zur Ambivalenz der Aufklärung, zur Begründung der Moral, zur Diagnose des Nihilismus, zum Sieg der Massenkultur oder zur Sinnkrise in der Moderne. Dies alles erklärt auch, warum ganz unterschiedliche gesellschaftliche, philosophische und politische Strömungen Nietzsche als ihren Philosophen zu entdecken und zu vereinnahmen versuchten.
 

Ablehnung des Christentums
Wie begründete nun Nietzsche seine fundamentale Ablehnung des Christentums? Anschaulich beantworten lässt sich diese Frage anhand der bereits erwähnten Schrift "Der Antichrist". Die Argumentation des Philosophen ist dort vor dem Hintergrund seiner bereits referierten Auffassungen zum "Willen zur Macht" zu sehen. Wörtlich heißt es: "Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt. (...) Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazuhelfen. Was ist schädlicher als irgendein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen - das Christentum ..." Die Vorwürfe gründen demnach in der Auffassung, das Christentum schwäche oder vernichte die natürlichen Antriebe des Lebens.

Es unterhöhle, so Nietzsche weiter, den höherwertigen, lebenswürdigen und zukunftsgewissen Menschentyp. Statt dessen werde "der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch - der Christ ..." Wie hier exemplarisch zum Ausdruck kommt, arbeitet der Philosoph in dem Text mit Dualismen, das heißt, er stellt abgelehnte christliche und bejahte eigene Begriffe gegeneinander: Zu ersterem gehören Leben, Macht, Mut, Übermensch und Wille. Zu letzterem gehören Missratenes, Mitleid, Moderne, Schwäche, Toleranz. Das Christentum habe "einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht ... Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missratenen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte." Dadurch würden die Instinkte zur "Erhaltung und Wert-Erhöhung des Lebens" zerstört.

Angesichts dieser fundamentalen Ablehnung des Christentums und seiner Vertreter nimmt Nietzsche auch entsprechende wertende Pauschalisierungen vor, die nicht mehr nach dem inhaltlichen Wahrheitsgehalt von Aussagen fragen, sondern ihn von der Zugehörigkeit des jeweiligen Protagonisten abhängig machen: "Was ein Theologe als wahr empfindet, dass muss falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit." Ein anderes ähnliches Beispiel: "Der Glaube macht selig: folglich lügt er." Insgesamt herrschen in der Schrift, aber auch in den anderen Veröffentlichungen, undifferenzierte und verallgemeinernde Setzungen vor. Ausnahmen sind inhaltlich zutreffende, aber nicht näher belegte Sachaussagen wie etwa: "Diese Priester haben jenes Wunderwerk von Fälschung zustande gebracht, als deren Dokumente uns ein guter Teil der Bibel vorliegt." Gleiches gilt für behauptete Mechanismen und Zusammenhänge wie etwa "oberster Satz: 'Gott vergibt dem, der Buße tut' - auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft."

Inhaltliche Auseinandersetzungen und Begründungen finden sich nur in Andeutungen. Ein Beispiel zur "reinen Fiktions-Welt": "Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen ('Gott', 'Seele', 'Ich', 'Geist', 'der freie Wille' - oder auch 'der unfreie'): Lauter imaginäre Wirkungen ('Sünde', 'Erlösung', 'Gnade', 'Strafe', 'Vergebung der Sünde'). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen ('Gott', 'Geister', 'Seelen'); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen) eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Missverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie - 'Reue', 'Gewissensbiss', 'Versuchung des Teufels', 'die Nähe Gottes'). Eine imaginäre Teleologie ('das Reich Gottes', 'das Jüngste Gericht', 'das ewige Leben')."

Im Zentrum der Kritik stehen indessen ganz andere Aussagen, nämlich die gegen humanitäre Postulate wie etwa gegen den Gleichheitsgrundsatz: "Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das 'Vorrecht der Meisten' Revolutionen macht und machen wird - das Christentum ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: das Evangelium der 'Niedrigen' macht niedrig." Noch deutlicher wird die gesellschaftspolitische Stoßrichtung der Kritik in den folgenden gegen das "Sozialisten-Gesindel" gerichteten Worten: "Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf 'gleiche' Rechte ... Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt.- Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.
 

Nietzsche - ein humanistischer Urahn?
Kann Nietzsche mit solchen Auffassungen in die "Ahnengalerie" eines humanistischen Atheismus aufgenommen werden? Die Vehemenz seiner verbalen Angriffe legte für manche Gegner der Religion und des Christentums eine solche Zuordnung nahe. Ein Zitat aus dem "Antichrist" mag eine solche Einstellung und Interpretation nachvollziehbar machen: "Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht." Die stilistische Brillianz und verbale Vehemenz des bekannten Philosophen mag eine entsprechende Zuordnung erklären; gleichwohl muss ihr vor dem Hintergrund der für die Verwerfung des Christentums entscheidenden philosophischen Prämissen ausdrücklich widersprochen werden.

Dies gilt zum einen für den humanistischen Charakter, der Nietzsches Auffassung eben gerade nicht eigen war, was sich aus seinen Worten deutlich ergibt. Er lehnte erklärtermaßen all jene Tugenden und Werte ab, welche als der Humanität eigene gelten. Hierzu gehört auch die Verdammung des Ethos der Gleichheit und zwar nicht nur für die soziale, sondern auch und gerade für die rechtliche Sphäre, was sich deutlich aus den beiden oben zitierten Stellen des "Antichrist" ablesen lässt. Von daher verwundert auch nicht Nietzsches Zustimmung zur Sklaverei. Enthalten ist sie in einem wenig bekannten Text, dem 1872 verfassten Beitrag "Der griechische Staat" aus den "Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern". Die darin bekundete Bejahung der Sklaverei bezieht sich nicht nur auf die griechische Antike, sondern auch auf Nietzsches seinerzeitige Gegenwart. Der Philosoph behauptete dort sogar, "dass wir an dem Mangel des Sklaventums zugrunde gehen werden."

Gemäß seiner Auffassung vom starken und schwachen Leben ging Nietzsche auch von entsprechenden Rangunterschieden zwischen "Herren"- und "Sklaven"-Figuren aus, wobei die ersteren willkürlich agieren und herrschen konnten. In "Zur Genealogie der Moral" heißt es etwa: "Ich gebrauche das Wort 'Staat'; es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist - irgend ein Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisiert und mit der Kraft, zu organisieren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. (...) Wer befehlen kann, wer von Natur 'Herr' ist, wer gewalttätig in Werk und Gebärde auftritt - was hat der mit Verträgen zu schaffen!" Mit der Verdammung der rechtlichen Gleichheit ging die Ablehnung der politischen Demokratie einher. Sie sei, so heißt es in "Menschliches, Allzumenschliches", die "historische Form vom Verfall des Staates".

Alles was Nietzsche als "Dekadenz", "Nihilismus" und "Sklavenaufstand" diffamierte, gehörte zum Emanzipationsprozess der Moderne und damit zur aufklärerischen Humanität. Genau die entsprach nicht seiner Auffassung. Ebenso wenig kann seine Kritik des Christentums atheistisch genannt werden. Nietzsche formulierte in "Der Antichrist" und seinen sonstigen religionsphilosophischen Ausführungen keine Religions-, sondern eine Moralkritik. Nicht die Religion als ein soziales Phänomen an sich stand im Mittelpunkt seiner Reflexionen. Insofern entwickelte Nietzsche auch keine Theorie ihrer gesellschaftlichen und individuellen Funktion wie dies etwa Ludwig Feuerbach tat. Vielmehr konzentrierten sich seine kritischen Kommentare auf die Moral des Christentums, welche er in ihm dekadent erscheinenden Handlungen und Werten wie Gleichheit oder Mitleid auszumachen glaubte. Würde diese Moral einer Religion fehlen, so der daraus zu ziehende Schluss, könnte Nietzsche sie sehr wohl akzeptieren. Auch von daher kann der Philosoph wohl kaum als humanistischer Atheist gelten.


Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Jahrgang 1963, Politikwissenschaftler und Soziologe, zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Rechtsextremismus- und Antisemitismusforschung.

zurück