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Walter Dietz
Professor für evangelische Theologie an der Universität Mainz

Thesen zur theologischen Reaktion auf die psychoanalytische Religionskritik
 

1.) Der Elementarzusammenhang von Heil und Heilung: Die christliche Heilsbotschaft ist nur
dann glaubwürdig, wo sie im tieferen Sinn mit dem Heilwerden des Menschen einhergeht. Heilung
zielt auf eine Harmonie des Menschen in seinem konkreten Leib-Seele-Verhältnis, d.h. auf interne
wie externe Ausgeglichenheit.

2.) Zum Gebot der Nächstenliebe: Die christliche Botschaft, seinen Nächsten wie sich selbst
lieben, negiert nicht die Fähigkeit, sich selbst anzunehmen, sondern setzt diese im Gegenteil voraus.
Im Christentum geht es nicht um Selbstauslöschung, sondern um (sozial angemessen vermittelte)
Selbstverwirklichung.

3.) Sündenlehre: Übersteigerte Schuldfixierung ist von echter, konkreter Schuld abzuheben; das
Neurotische am Christentum wird dort am besten überwunden, wo man nicht mehr im Gefühl einer
unendlichen, untilgbaren Schuld versinkt (Zerknirschungsmentalität; neurotische Expansion des
Schuldgefühls: für alles und jedes verantwortlich zu sein).

4.) Gotteslehre: Gott ist nicht der allmächtige Vater, der meinen Wünschen wie herbeigezaubert
entspricht (Bonhoeffer: deus ex machina), er ist überhaupt nicht omnipotent im abstrakten Sinn
(vgl. scholastische Spintisierereien in der Klosterzelle: Konnte Gott einen Stein schaffen, so
schwer, daß er ihn selber nicht heben könnte...?), sondern er ist der in seiner Allmacht liebende
(und daher auch nur in seiner Liebe allmächtige) Gott!

Feministische Kritik: Gott ist nicht der absolute Über-Vater, Super-Macho, pater familias. Gott
muß auch im Leiden und in der Selbsthingabe (Christi in den Tod) als Liebe beschrieben werden;
als der für uns sorgende Gott (Providenz Gottes) ist er mit mütterlichen Attributen besser
beschreibbar (traditionsverbundener Einwand: Im Zusammenhang der Trinität ist Gott nicht als
Mutter, sondern nur als Vater beschreibbar!).

5.) Christologie (Wesen und Bedeutung der Person Jesu Christi): Die tiefenpsychologische Kritik
der Christologie kritisiert deren Bedingtheit durch das illusionsverhaftete Ideal der "Messianität"
Jesu. Demgegenüber besteht das Besondere an Christus gerade darin, jenem Wunschbild von
Messianität gerade nicht zu entsprechen. Christologie sollte m.E. in Beantwortung der
Religionskritik Freuds nicht versuchen, die Dimension des Leidens und Sterbens Jesu zu vertuschen
oder durch eine neue Form der theologia gloriae zu übertünchen, sondern gerade so Christus als
den aufzeigen, dessen Lebensweg alle menschlichen Wunschvorstellungen konterkariert. Das Kreuz
Christi bedeutet das Ende einer religiösen Illusion, keineswegs nur im Blick auf die nicht
erwartungskonform erfüllte Messiashoffnung des Judentums, sondern universal als Entlarvung aller
religiösen Illusion. Die Illusion besteht darin, daß Gott sich unmittelbar, leid- und schmerzfrei als
Liebe offenbaren könnte, ferner darin, daß auch wir als Nachfolgende religiös unsere
Allmachtsphantasien ausbauen und ausleben könnten. Das Kreuz ist hier der entscheidende
Wendepunkt, die Abwendung einer Illusion, die fundamentale, kollektive Desillusionierung des
Menschen. Ohne diesen Schmerz der Desillusionierung hätte es das Christentum nie geben können.
Weil Freud sehr weit entfernt war von dieser zentralen Erkenntnis des Christentums, deshalb ist
seine Kritik m.E. auch sehr weit davon entfernt, dieses im Zentrum zu treffen. Das Christentum
zeichnet sich in besonderer Weise aus, Illusionskritik zu betreiben und in der Desillusionierung eine
"heilsame Verzweiflung" als Durchgang zu einem freien Selbst- und Weltbewußtsein zu sehen.


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Walter R. Dietz (Prof. für ev. Theologie Uni Mainz)