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Aus "Fluter"
Warum gibt es überhaupt Religionen? 
Wir haben Udo Tworuschka gefragt. Der ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Jena. Der heute 55-Jährige ist in einer katholisch geprägten Region, aufgewachsen. Er selbst aber ist evangelisch. Als Jugendlichen hat ihn Religion nicht besonders interessiert, das änderte sich später. Er veröffentlichte diverse Bücher zum Thema Religion.

 

Das Bedürfnis zu glauben

Herr Tworuschka, warum gibt es Religionen?
Die Frage lässt sich ähnlich schwer - eigentlich gar nicht - beantworten, wie die Frage warum es Sprachen gibt. Früher und auch heute ist für viele Menschen die Religion "notwendig, um die niederschmetternde, lähmende Vorahnung von Tod, Unheil und Schicksal zu überwinden", so hat es der britische Sozialwissenschaftler Bronislaw Malinowski formuliert.

Welche Funktion hat Religion in einer Gesellschaft?
Zu den wesentlichen Leistungen von Religion zählen die Linderung und Beseitigung der Angst vor der Unsicherheit des Daseins. Aber auch Hoffnung über den Tod hinaus. Religion beantwortet auch die großen Fragen des Lebens: nach dem Ursprung, der Geschichte und Zukunft vom Menschen und der Welt. Religion stellt außerdem Regeln für ein glückliches Leben auf. Es ist eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und manchmal auch eine Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Umständen.

Gibt es eine Art Gesetz nach dem Religionen funktionieren?
Religionen sind vieldimensionale Gebilde. Ich spreche gern von "Bauelementen der Religion(en)". Charakteristisch für "Religion" sind Erfahrungen, Sprache, Handlungen und Gemeinschaften.

Glaubt jeder Mensch an etwas?
Die einen glauben an die "Macht der Liebe", die anderen an ewige Freundschaft, noch andere an die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wenn wir vom "Glauben" in den Religionen sprechen, dann ist damit aber etwas anderes gemeint. Nämlich die Haltung des Vertrauens einem Gott gegenüber, der es gut mit seinen Geschöpfen meint. Vor allem im Judentum, Christentum und Islam hat der Glaubensbegriff diese Komponente.

Man hört immer von den vielen Unterschieden der Weltreligionen. Unterscheidet sich zum Beispiel der Islam wirklich so stark von anderen Glaubensrichtungen?
Nein, überhaupt nicht. Der Islam hat sehr viel mit Judentum und Christentum gemeinsam. Jesus kommt oft im Koran vor. Alle drei Religionen haben einen personalen Gott im Zentrum, der die Welt erschaffen hat, sie erhält und einem Ziel zuführt. Dieser Gott ist im Islam durch und durch "barmherzig", im Christentum "gnädig". Das Menschenbild der drei Religionen hat viele gemeinsame Züge: Der Mensch gilt als Geschöpf Gottes. Und er ist gut geschaffen worden. Der Mensch hat einen Auftrag erhalten, die Umwelt nicht auszubeuten, sondern sie sorgsam zu behandeln. Das lehrt der Koran nicht anders als die Bibel. Mann und Frau sind gleichwertige Geschöpfe Gottes. Die drei Religionen kennen Propheten, sie haben heilige Schriften.

Trotz der vielen Gemeinsamkeiten, gibt es ja doch auch Unterschiede.
Die rechtliche Seite spielt im Islam eine viel größere Rolle. Mohammed ist nicht "Sohn Gottes", sondern "Gesandter Gottes", und das heißt er ist ein Mensch wie wir auch - nur mit einem besonderen Auftrag versehen, nämlich den Koran zu bringen. Der Islam vertritt einen glasklaren Monotheismus, das heißt, es gibt nur einen Gott und keine Trinität wie im Christentum. Der Erlösungsgedanke ist unislamisch: Es gibt niemanden, der stellvertretend für mich eintritt, sondern der Mensch als Geschöpf Gottes ist unvertretbar und steht in seiner Würde vor Gott. Es gibt im Islam keine Vermischung von Göttlichem und Menschlichem. Beide Ebenen bleiben getrennt.

Inwiefern ist das Christentum mit dem Hinduismus oder Buddhismus vergleichbar?
Sie sind vergleichbar, weil sie "Religionen" sind, weil in ihnen eine "andere Wirklichkeit" eine große Rolle spielt. Und weil sie alle aus den oben genannten Bauelementen zusammengesetzt sind. Hinduismus und Buddhismus gehören aber viel enger zusammen als die drei anderen. Im Buddhismus steht kein personaler Gott im Mittelpunkt, sondern eine unpersönliche Größe: das Nirvana, jener Zustand also, in dem der Zustand des "Leidens", in dem alle Lebewesen sich befinden, aufhört. Kein Gott hat die Welt geschaffen oder greift in sie ein. Es gibt auch kein Ziel, auf das unsere Welt - die nur eine von vielen gewesenen und kommenden ist - zuliefe.

Bisher haben wir nur von den fünf Weltreligionen gesprochen, insgesamt gibt es ja über 400 Glaubensrichtungen. Wie kommt es zu so vielen verschiedenen Religionen?
Genauso wie es zu vielen Sprachen und Kulturen kommt. Der Mensch hat sich in allen Zeiten und Regionen Vorstellungen von dieser "anderen Wirklichkeit" gemacht. In der Frühzeit der Menschheit hatte jedes Volk, seien es die Babylonier oder Ägypter, eigene religiöse Vorstellungen. Man spricht von Volksreligionen. Seitdem es Universalreligionen oder Weltreligionen gibt, sind solche Ideen nicht mehr auf derartige Gemeinschaften beschränkt, sondern eben universal ausgebreitet. Durch Missionare und Missionarinnen wurden die Vorstellungen in der ganzen Welt verbreitet - etwa das Christentum in Afrika. Und so kommt es heute, dass es den Buddhismus nicht nur in asiatischen Ländern, sondern auch hierzulande gibt.

Bleiben wir noch beim Christentum. In Deutschland gehen immer weniger Menschen in die Kirchen. Welche Rolle spielt Religion heute noch? Bei uns und in anderen Kulturen?
Das Christentum blickt auf eine Zweitausendjährige Geschichte zurück. Zu dieser Religion bekennen sich heute fast zwei Milliarden Menschen. Die christliche Religion ist wesentlicher Bestandteil der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte. Dennoch wird heute immer deutlicher: Die Zukunft des Christentums liegt nicht länger in Europa und Nordamerika, sondern in den Ländern der Dritten Welt. Dort haben wir es zum Teil mit einer ungeheuren christlichen Aufbruchstimmung zu tun. Mehr als zwei Drittel aller römischen Katholiken leben heute in Ländern der Dritten Welt. Auch in einigen asiatischen Ländern hat die Zahl erheblich zugenommen.

Wo finden sich denn bei uns heute die Spuren der Religion?
Immer weniger Menschen wissen, welch prägenden Einfluss das Christentum auf das abendländische Denken, die Literatur und Kunst ausgeübt hat und noch ausübt. Alltägliche Lebensverrichtungen und -phasen sowie Gefühlseinstellungen sind vom Christentum in seiner jeweiligen konfessionellen Gestalt - dem Katholizismus oder Protestantismus - (mit-)geprägt worden. Sei es beim Essen und Trinken, der Sexualität, Arbeit und Freizeit, aber auch bei den Erziehungsvorstellungen, der Einstellung zu Zeit und Raum sowie zu Gefühlen und Bedürfnissen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Unsere Alltagssprache ist ein gutes Beispiel. Christliche Begriffe wie "Sünde" werden auch heute noch täglich benutzt - so gibt es die Verkehrssünderkartei. Selbst nicht-religiöse Zeitgenossen nutzen biblischen Wendungen wie "Ich wasche meine Hände in Unschuld". In allen Phasen seiner Geschichte hat das Christentum versucht, auf seine "Umwelt" einzuwirken: in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Erziehung.

Aber das ist nicht alles?
Nein, zahlreiche Phänomene unserer scheinbar säkularisierten Kultur haben jüdisch-christliche Wurzeln. Dazu gehören die Menschenrechte, das Völkerrecht und wissenschaftliches Denken. Ein weiteres Beispiel ist die westliche Zeitrechnung, die von einem christlichen Maßstab ausgeht: sie rechnet vor bzw. nach Christi Geburt. Auch der Sieben-Tage-Rhythmus unserer Woche mit dem Sonntag als Ruhetag ist ein jüdisch-christliches Erbe.

Das Interview führte Alva Gehrmann. Sie lebt als freie Autorin in Berlin.
 
 
 
 

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