zurück

      Eugen Drewermann
Freiheit und Religion

 
 

 "... Der Auszug aus Ägypten und das Vermächtnis Israels

All die Szenen, wie Israel zu seiner Freiheit und zum Ort seiner Bestimmung gelangt, sind Bilder und Stationen des Prozesses, den ein jeder von uns durchlaufen muss, um zu sich selbst zu finden.

Alles, was Israel in seiner äußeren Geschichte durchgemacht hat, sind typische Marksteine auf dem inneren Weg eines jeden Menschen, der endlich einen eigenen Grund und Boden unter die Füße bekommt.
 
 
 

a) Zwischen Menschenfurcht und Gottvertrauen

Wenn von Gott die Rede ist, klingt das oft so, als ob es sich dabei um eine bestimmte philosophische Hypothese handelte, und wenn man von Israel spricht, so meist im Sinne des bekannten religionshistorischen Faktums, dass dieses Volk den Monotheismus ins Leben gerufen hat. 

Aber die Wahrheit ist, dass jeder einzelne von uns dieses Stück Religionsgeschichte, das Israel als Volk durchlebt hat, für sich selbst durchmachen muss, wenn er überhaupt zu einer eigenen Geschichte finden will, dass es also gar nicht um etwas Historisches, sondern um etwas Typisches geht und dass man überhaupt erst dann als Mensch ins Leben gerufen wird, wenn man seinen Gott gefunden hat.

Oder ist es zuviel behauptet, dass jeder von uns, unmittelbar genommen, nach wie vor in einem Felde existiert, das sich von den antiken Mythen, was ihre Angst betrifft, in nichts unterscheidet? 

Was erzählen denn die Geschichten der Völker? Sie schildern, dass die Menschen aus lauter Angst zu den tragischen Spielbällen irgendwelcher Daseinsmächte werden, die mit ihnen machen, was sie wollen'. Es ist eine Welt voller Angst; voller Ohnmacht und voller Unfreiheit. Jederzeit muss man in dieser Welt auf der Hut sein vor den Anschlägen irgendwelcher Götter, Dämonen und Zauberwesen, die einen nach Belieben in einen Bären, in ein Schwein oder in eine Gans verwandeln können und die die Macht haben, das Leben zu versteinern oder zu einer Karikatur seiner selbst zu erniedrigen. Und all dies muss man über sich ergehen lassen ohne Schutz und Gegenwehr.

Jeder von uns kennt diese Welt der Angst und der Abhängigkeit aus eigener Erfahrung zur Genüge. Er braucht nicht erst die Erklärung S. FREUDs, dass die angstgetriebene Erlebnisweise der Neurose auf fatale Weise diesem Weltbild der Mythen entspreche; er weiß selbst, wie sehr ihn die Angst daran hindert, innerlich frei zu sein, wie sehr er sich selbst wie verwünscht, wie verflucht vorkommt, ohnmächtig auf der Stelle tretend, ewig auf der Flucht vor anderen, nicht wie ein Mensch, sondern wirklich wie ein Vieh dahinvegetierend, in ewigem Wiederholungszwang bestimmte Erlebnisse der Kindheit repetierend ohne jede Möglichkeit von Korrektur und Fortschritt.

In den Mythen, sagt man, gibt es keine Geschichte, sondern nur den Kreislauf einer ewigen ritualisierten Wiederkehr. Genauso ist das in einem Leben der Angst: vor lauter Hoffnungslosigkeit und Angst fehlt darin jeder Gedanke, dass es so etwas wie eine Zukunft gäbe; einzig wirklich sind bestimmte Gewohnheiten, Erinnerungen und Verfehlungen, von denen wir nicht loskommen und die jeden Ausblick nach vorn verstellen. Was uns beherrscht, ist in der Angst ein Ritual bestimmter grundlegender Eindrücke, an die wir scheinbar auf immer gebunden bleiben.

All diese Erniedrigungen und Verhaftungen an die Fesseln der Angst hat Israel erfahren müssen in «Ägypten», dem «Haus der Knechtschaft», wie es später sagte. Am Anfang, wohlgemerkt, kam ihm das Leben in Ägypten gar nicht wie ein Haus der Knechtschaft vor; es war vielmehr nach Ägypten gegangen, einzig und allein um dort überleben zu können. Was uns abhängig macht, ist ja gerade dieser Eindruck, es gäbe für uns keinen anderen Weg mehr und wir müssten uns beim anderen verkriechen, nur um überhaupt existieren zu können. Allein die Angst, sonst zugrunde zu gehen, bewirkt, dass wir unter die absolute Herrschaft anderer geraten. Aber haben wir diese Herrschaft erst einmal akzeptiert, so ist es mit uns selber aus.

Das Bild dafür ist in der Geschichte Israels die Gestalt des Pharao. Er ist im Erbe Israels zum Inbegriff für alle Sklaverei durch angstbesetzte Menschenvergötterung geworden. Er ist das israelitische Grundsymbol für all das, was Menschen daran hindert, menschlich zu leben. Denn das ist die Erfahrung aller Menschenabhängigkeit: wer sich einmal darein begeben hat, andere Menschen zu Göttern zu erheben, für den wird das eine Schraube ohne Ende sein. Das gerade kann man am Beispiel Israels für sich lernen: wenn erst einmal ein anderer Mensch aus Angst in eine gottgleiche Stellung erhoben worden ist, dann kann man machen, was man will: nichts gehört einem dann mehr selbst; alles, was man hervorbringt, all die Frucht des eigenen Lebens, die gesamte eigene Zukunft wird dann zerstört. Man arbeitet und arbeitet mit immer höherem Ertrag und immer höherem Einsatz, aber es geschieht stets nur unter dem Druck der Angst, auf fremden Befehl hin, es gilt nie einem selbst. Alles, was man tut, geschieht nur, damit man von den anderen am Leben gelassen wird, um sie zu besänftigen und gnädig zu stimmen. Man mag dabei noch so tüchtig sein, - im Grunde bleibt man dabei, sich selber zu verachten und sich für die eigene Nichtigkeit zu schämen.

Man kann nicht leben, wenn alles, was menschlich ist, einem anderen Menschen als einem Gott abgetreten werden muss. Doch so verhängnisvoll geht es zu, wenn das eigene Leben von Angst aufgefressen wird; man muss dann irgendeinem anderen Menschen zu Füßen fallen und ihm die eigene Freiheit, das eigene Leben, die gesamte eigene Existenz übertragen - und sich selbst dabei als Mensch vernichten, immer in der Sorge, ohne diese Sklaverei geradewegs selbst vernichtet zu werden. Der andere wächst im Zirkel der Angst immer mehr in seiner projizierten Allmacht, man selbst aber fließt darin immer mehr aus und wird immer blutleerer. Man weiß genau, dass alle Menschengötter sich aus Angst in wahre Vampire verwandeln müssen, und trotzdem wird im Umkreis solcher Angst- und Ohnmachtgefühle jeder Gedanke nur noch in die eine Richtung gelenkt werden, wie man den selbsternannten Gottheiten ringsum noch besser dienen und die Ketten des eigenen Gefängnisses noch fester schmieden kann.

Die Welt, in der wir unmittelbar leben, ist eine Welt solcher ständigen Selbstentwertungen und Selbsterniedrigungen, eine Welt unmenschlicher Götzendienerei unter dem Druck einer unablässigen Angst; unmittelbar werden wir von dem Gefühl beherrscht, nur das zu sein, was andere mit ihren Weisungen und Befehlen in uns hineingelegt haben. Wesentlich ist für uns in der Angst stets nur die Zustimmung des anderen; was er uns sagt, ist unser Wesen: als ob wir nur existieren könnten, wenn, wie F. KAFKA einmal von sich gesagt hat, Man mag einwenden, das sei zu extrem gesehen, so sei es doch gewiss nicht überall, das könne man nicht verallgemeinern. Aber doch kann man das verallgemeinern. Man muss nur deutlich sehen, dass Angst nicht unbedingt auch subjektiv erlebt werden muss, um im Leben eines Menschen wirksam zu sein. Jemand, der bis dahin nur im Wind gesegelt hat und stets vorangekommen ist, hat bisher vielleicht tatsächlich noch gar keine Gelegenheit gefunden, auch nur zu merken, wie wenig er selbst existiert, wie seine Tätigkeiten an Marionettenbändern gezogen werden und alles in seinem scheinbar so erfolgreichen Leben nur darum kreist, den anderen zu Gefallen zu sein und ihrer Kritik durch makellose Anpassung zuvorzukommen; er funktioniert so glänzend angepasst, dass er selbst vielleicht gar nicht empfindet, wie sehr er nur von außen her gelebt wird, bis dahin, dass er alles tut, aber nichts selber irrt. Äußerlich gesehen, lebt ein solcher Mensch womöglich gut und geachtet und sitzt buchstäblich bei den »Fleischtöpfen Ägyptens»; nur er selber existiert gar nicht als Mensch, er hat aus Angst sein eigenes Leben verraten und seine eigene Freiheit abgetreten. Er erreicht auf seine Weise vielleicht die besten Noten und die besten Plätze in der Anerkennung menschlicher Halbgötter, aber er selber bleibt ein Sklave, ein Mensch ohne eigenes Leben, ohne Freiheit, ohne Glück und ohne Selbstvertrauen.

So spitzt sich denn alles auf die Frage zu, wie man aus diesem Gefängnis der Menschenabhängigkeit und Menschenvergötterung herauskommt, wie man die Welt der mythischen Angstrituale verlassen und zu sich selber finden kann. Israel hat darauf seine Antwort in der Geschichte von der Berufung des Moses gefunden. Du kannst den Einfluss und die absolute Macht anderer Menschen erst dann relativieren, wenn du zu deinem Gott gefunden hast», hat es gesagt. Du kannst erst dann frei werden, wenn du jenseits der Menschenanbeterei dem Gott begegnest, der deinem eigenen Wesen entspricht.» Das war es, was Israel aus der Begebenheit vom brennenden Dornbusch gelernt hat: Es gibt nur einen Herrn, der von dir Besitz ergreifen kann, ohne dich zu vernichten; solange du Menschen gehorchst und dir von ihnen vorschreiben lässt, wer du bist, wird es dir gehen wie in der Fabel Jotams (Ri 9,7-15), dass Feuer aus dem Stechdorn hervorbricht und dich verzehrt. Nur Gott ist imstande, von dir Besitz zu ergreifen und dich leben zu lassen, so wie du bist.» Dieses Wunder vom brennenden Dornbusch ist der Anfang der Freiheit. In ihm liegt das ganze Geheimnis einer eigenen Existenz.

Später, wenn Israel sagen sollte, woran es glaubte, hat es sich stets auf diese Szene berufen; es hat gemeint, dass es nur darauf ankäme, im Leben eine einzige Entdeckung zu machen, die es wie ein Gebot, wie ein Lebensgesetz formulierte: "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein". Nichts, meinte Israel, sei wichtiger als diese Erfahrung: niemand hat in dem Leben eines Menschen etwas Wesentliches zu sagen und zu bestimmen als nur allein die Macht, von der es stammt und der es sich verdankt. Sie ist die einzig wesentliche Macht, weil sie allein zu uns nicht in fremden, von außen auferlegten Anweisungen spricht, sondern sich uns in den Gesetzen zeigt, die in uns selber liegen. Nur Gott kann uns auf eine Art befehlen, die uns nicht entfremdet, sondern uns entspricht. Nur Gott will von uns niemals etwas anderes als das, wozu er uns gemacht hat. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten: entweder man hört aus Angst nach außen auf das, was andere einem sagen und vorschreiben, dann wird man unweigerlich anfangen, fremden Göttern zu dienen», wie die Bibel sagt, und das ganze Leben wird dann von Mächten bestimmt sein, die unsere Freiheit zerstören und unser eigenes Wesen vernichten; oder man hat den Mut, auf den Gott zu hören, der sich Israel gezeigt hat als der "Gott deiner Väter", als der Gott, der dem eigenen Wesen, dem eigenen angestammten Sein entspricht; - nur dann wird man aus der Angst und der mythischen Vergötterung der Umwelt heraustreten. Gott spricht in unserem eigenen Wesen; er will uns so, wie er uns selbst gemacht hat; er ist die einzige Macht, die uns vorweg zu allem bejaht und akzeptiert; er ist das einzige, was uns nicht fremd, sondern zuinnerst ist. Und diesen Gott zu lieben aus ganzem Herzen und mit allen Kräften, so dass in uns kein Rest mehr bleibt, der ausgeschlossen werden müsste, - das ist das einzige Gebot und Grundgesetz unseres Daseins, wie Israel es vorgelebt hat.

Wenn wir wissen, dass wir vor Gott sein dürfen und vor Gott gut genug sind, so kann uns keine Macht der Welt mehr daran hindern, zu leben, selber zu leben. Wir werden dabei niemals sagen können, warum das so ist. Wir werden dafür keinen Namen, keine Formel anzugeben wissen. Wenn man uns fragen wird wie Israel den Moses: "Wie heißt denn nun dein Gott?", - so werden wir dafür keinen Begriff haben; nur eines werden wir sagen können, und das war für Israel so entscheidend: dass wir Gott erfahren haben als eine Macht, die bei uns ist, wenn wir sie brauchen, die da ist, wo wir sind, die uns begleitet und sich in uns selber auslegt, die «dasein wird, als die sie dasein wird» (Ex 3,14), als offener, vertrauensvoller Beistand. Diese Erfahrung einer absoluten Berechtigung unseres Selbst, unseres wahren Wesens, verleiht uns den Mut, die Menschenvergötterung zu durchbrechen. Wer einmal seinem Gott begegnet ist, für den verlieren alle Pharaonen ihre göttergleiche Vormachtstellung; dem wird offenbar, dass Menschen nur Menschen sind und nicht verdienen, aus Angst zu Rettern und Heilanden erhoben zu werden.
 
 

  b) Ausbruch und Aufbruch

 Aber mit dieser Einsicht beginnt unser Leben sich in einen langen und schwierigen Weg zu verwandeln; es ist jetzt nicht mehr möglich, im ewigen Einerlei der Sklavenversorgtheit fortzufahren; man muss jetzt einen Ausbruch wagen, das ist überdeutlich. Nur wie? Das erste, was man versuchen wird, ist der Gang, den Moses und Aaron zum Pharao unternehmen. Zunächst wird man versuchen, gerade von den Mächten, die bis dahin die eigene Gefangenschaft organisierten, so etwas wie eine offizielle Genehmigung zum Ausbruch zu erhalten. Man wird versuchen, einen Kompromiss zu schließen zwischen dem Aufruf zur eigenen Freiheit, zur Rückgewinnung der eigenen Würde, und der Angst vor den Gottkönigen und den Instanzen, die bislang gerade die totale Unterwerfung zu fordern schienen. Man möchte, wenn man einmal gesehen hat, was Gott als ein eigenes Leben für uns will, schon unbedingt dem Weg der Freiheit folgen; aber man wagt es andererseits doch nicht, offen mit der alten Gefangenschaft und Abhängigkeit zu brechen. Denn zu drohend und mächtig erscheinen die alten Autoritäten, zu schwach und erbärmlich erscheint man sich selber; und so möchte man zwar frei sein, aber doch mit dem inneren Einverständnis und der Erlaubnis all derer, an die man sich bisher gebunden fühlte. - Die Erfahrung Israels und die Erfahrung jedes Menschenlebens zeigt jedoch, dass es einen solchen Kompromiss zwischen Menschenfurcht und Gottesfreiheit nicht gibt. Denn solange man um Erlaubnis bittet, solange erkennt man die fremden und verinnerlichten Instanzen der Menschen als entscheidend an, obwohl man dabei nur zu immer schwereren Leiden und Verwüstungen gelangt. Aber das ist nun so merkwürdig: man kann genau wissen, was richtig ist, und doch getraut man sich nicht; man weiß genau, wer und was daran hindert, endlich zu sich selbst zu finden; aber man wagt es nicht, diese Hindernisse zu übersteigen. Das einzige, was wir merken, ist der Umstand, dass wir den anderen und uns selber immer mehr zu Plage werden, wenn wir in der angstvollen Knechtschaft verharren, dass selbst dann, wenn wir so weiterarbeiten und -leben wollten wie bisher, unsere bloße Anwesenheit schließlich uns selbst und den anderen eine unzumutbare Last werden müsste. Und dieses Wissen ist gut. Denn erst wenn unsere Anwesenheit den Fronvögten Ägyptens und uns selber wirklich unerträglich ist, wenn buchstäblich alle Plagen Ägyptens unser Leben und das unserer Umgebung heimsuchen, werden wir den Aufbruch wagen.

D. h., wir wagen ihn im Grunde nicht. Die ersten Schritte in die Freiheit gleichen immer einer Flucht, und je drückender die vorausgegangene Abhängigkeit war, desto versteckter und fluchtartiger wird dieser erste Gehversuch in die Freiheit ausfallen. Wie denn auch anders! Wer will denn verlangen, dass man es auf einen offenen Machtkampf mit dem eigenen Überich und den es tragenden Instanzen ankommen lässt, wenn man sein ganzes Leben lang bisher sich nur wie auf Grund völliger Unterwerfung gerade noch geduldet erlebt hat? Wie soll denn jemand, der bisher sich angepasst hat, nur um gerade noch am Leben gelassen zu werden, jetzt plötzlich aufstehen und die direkte Konfrontation suchen? Er wird vielmehr nur einfach das Gefühl haben, dass es schlechterdings so nicht mehr weitergeht, dass er jetzt irgendwie und unter allen Umständen aus dem Zustand der Angst, der Abhängigkeit und Unmündigkeit herauskommen muss, und er wird froh sein, wenn er bei Nacht und Nebel alles stehen und liegen lassen und einfach verschwinden kann. Unter einem solchen Ausmaß inneren und äußeren Leidens wird es ihm dabei schließlich fast wie egal sein, wohin der Weg geht, und es scheint, als ob zu jedem Aufbruch in die Freiheit eine solche fluchtartige Bereitschaft gehöre, das Getto einer sklavisch geordneten Welt zu verlassen und sich in das Gebiet eines völligen Neulandes, einer Art Wüstenei zu begeben. Jeder Außenstehende muss bei diesem ersten Schritt in die Freiheit den Kopf schütteln und einwenden, dass man hier doch nichts zu gewinnen und nur alles zu verlieren habe, dass man ein Narr sei und bloßen Phantasmagorien folge, und man hat ja auch wirklich nichts vorzuweisen, was, äußerlich gesehen, von Rang und Gewicht wäre. Man hat nur dieses Luftige und Unsichtbare, wofür man doch bereit ist, alles dranzugeben: ein eigenes Leben, eine eigene Würde, das Recht, ein Mensch zu sein. Mag sein, man ist vor langer Zeit nach „Ägypten" gekommen aus Angst, in der „Steppe» zu verhungern; jetzt zieht man eben diese „Steppe" den „Fleischtöpfen" vor.

Wann immer man den Lebensweg eines Menschen bis zu diesem Aufbruch in die Freiheit verfolgt, muss man sich an dieser Stelle jetzt auf das Schlimmste gefasst machen. Denn man kann ganz sicher sein: kaum sind die ersten Schritte in Richtung auf ein eigenes Leben getan, da nahen sich von hinten übermächtig die alten Unterdrucker und drohen uns wieder einzuholen. Die Streitwagen des Pharao am Schilfmeer - das kann für ein ganzes Arsenal innerer und äußerer Verfolger stehen, die wir zunächst in die Freiheit mitnehmen, z. B. in Form tödlicher Schuldgefühle. Wer einmal gesehen hat, welche inneren Auseinandersetzungen es kostet, auch nur ein paar Schritte aus den Zwangssicherungen einer entfremdeten Moral oder einer rein äußeren Gesetzesfrömmigkeit herauszugehen, wie viel Angst dabei freigesetzt wird und wie viel verinnerlichte Strafen und Vorwürfe es dabei herabregnet, dem wird sich dieses Bild von der verfolgenden Wagenabteilung des Pharao geradezu aufdrängen, um zu beschreiben, was sich da abspielt. Es ist in diesen Moment wirklich, wie wenn jeder eigene Schritt, ja jeder eigene Gedanke sofort blockiert, als verboten hingestellt und als unerlaubtes Aufbegehren unterdrückt würde. Jedes neue Wort, das man im eigenen Interesse, um der eigenen Wahrhaftigkeit willen sich zu sagen getraut, wird sogleich von der inneren Polizei zurückgepfiffen. Jeder Schritt nach vorn wird sogleich von einem Heer innerer Verfolger eingekreist und umzingelt.

Fachbegriffe kurz erklärt
Man kann sich diese Widersprüche in der Realität kaum grausam genug denken, aber man braucht sich dabei äußerlich durchaus nichts Besonderes vorzustellen. Ein Schritt nach vorn in die Freiheit, das heißt für den einen, dass er sich mal getraut, in einer Gruppe einen eigenen Gedanken zu äußern und gegen das ewige Selbstbild anzukämpfen, dass er zu dumm und zu schwächlich sei und am besten nur in der Meinung aller untertauchen könne; ein Schritt nach vorn, das heißt für einen anderen, dass er es mal riskiert, sich einen Wunsch zu erfüllen: ein neues Kleid vielleicht, eine Schallplatte, einen Ausflug am Wochenende, - etwas jedenfalls, das nicht sein muss und darum von der allgemeinen Notwendigkeit verordnet ist, sondern etwas, das er auf seine eigene Kappe nehmen und für das er gerade stehen muss; und kaum riskiert er es, da fallen über ihn die alten Vorwürfe wie Geier her und drohen ihn zu vernichten; nicht nur seine Freiheit suchen sie wieder rückgängig zu machen, sondern es ist, als wollten sie ihn physisch vernichten. Man überschreitet die Welt der Menschengötter und Dämonen nicht ohne die Angst, zur Strafe dafür totgemacht zu werden, und zwar bei jedem Schritt, bei jeder neuen Handlung, bei jedem Wort, bei jedem Anflug eines eigenen Gedankens."
 

 (Aus E. Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, Olten/ Freiburg 1992, gekürzt)