Materialien für den  Religions- und Ethikunterricht


 
  Ethik der Würde - Ethik der Interessen
 
Wolfgang Huber
Professor Dr. theol., geb. 1942.
Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg;
2003-2009 Ratsvorsitzender der EKD

 

Wolfgang Huber

Organtransplantation, Hirntod und Menschenbild

"Es geht in diesem Konflikt nicht, wie gelegentlich gesagt wird, um einen Gegensatz zwischen - rationaler - Argumentation und - irrationaler - Wertung, sondern um einen Konflikt zwischen zwei ethischen Ansätzen, in deren Rahmen wissenschaftliche Daten jeweils eingeordnet werden. 

Ich bezeichne die beiden ethischen Grundorientierungen, die gegenwärtig miteinander im Streit liegen, als "Ethik der Würde" und als "Ethik der Interessen".

Eine Ethik der Interessen bestreitet, dass es übergeordnete Prinzipien gibt, mit deren Hilfe ein Konsens in ethischen Konfliktfragen von öffentlichem Gewicht herbeigeführt werden kann. Solche Prinzipien sind, so heißt das Argument, angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus immer im Streit; soweit sie in ihrer Begründung auf religiöse Wurzeln verweisen, gelten sie dieser Betrachtung zufolge als ohnehin öffentlich nicht kommunikabel. Ethische Urteile haben sich deshalb ausschließlich an den Interessen der beteiligten Personen zu orientieren; sie haben demjenigen Weg den Vorzug zu geben, der möglichst viele Präferenzen möglichst vieler Beteiligter berücksichtigt. 

Die entscheidende Folgerung aus diesem Ansatz lautet: Nur diejenigen Personen müssen innerhalb der ethischen Abwägung berücksichtigt werden, die ihrerseits überhaupt zur Entwicklung von Präferenzen in der Lage sind. Die Fähigkeit, Interessen zu haben und zu artikulieren, ist dieser Auffassung zufolge das entscheidende Merkmal der Person. Nur Personen in diesem Sinn haben in ethischen Abwägungen einen eigenständigen Ort. Oder in einer Formulierung von Reinhard Merkel: "Der Grund für die Zuschreibung von Lebensrechten kann, diesseits religiöser Bekenntnisse, schwerlich etwas anderes sein als der Schutz vorhandener Lebensinteressen." Der Umkehrschluss ist unabweisbar: Wo Lebensinteressen nicht als vorhanden nachgewiesen werden können, dort gibt es keinen Grund für Zuschreibung von Lebensrechten; dort können also die nicht mehr begründbaren Lebensrechte auch aberkannt werden...

Orientierung an den Lebensinteressen führt deshalb zwingend einer einseitigen Identifikation der menschlichen Person im Ganzen mit ihren kognitiven Fähigkeiten.

Ethiker, die so argumentieren, nehmen damit das Recht für sich in Anspruch, abschließend darüber zu verfügen, was den Menschen zum Menschen macht. Sie unterwerfen den Menschen der Verfügung durch andere Menschen. Genau gegen diesen Herrschaftsanspruch richtet sich der Widerspruch einer Ethik der Würde.

Am radikalsten ist die Ethik der Würde in ihren religiösen Formen zum Ausdruck gebracht worden. Die Reformation hat sie mit dem Gedanken begründet, dass der Mensch sich nicht durch seine eigenen Leistungen hervorbringt und nicht durch seine eigenen Werke letztgültige Anerkennung erwirken kann. Nicht menschliche Leistung, sondern göttliche Gnade konstituiert die menschliche Person. Eben deshalb ist sie im Entscheidenden jeder Verfügung durch andere Menschen, durch gesellschaftliche Kräfte oder durch politische Mächte entzogen. In seiner Endlichkeit ist der Mensch mit einer unendlichen Würde begabt, die gerade nicht sein eigenes Hervorbringnis, sondern reines, unverdientes Geschenk ist.

Die so begründete Ethik der Würde hat unter den Bedingungen der Moderne auch eine säkulare Gestalt angenommen. Sie tritt uns am reinsten in der Philosophie Kants entgegen. Kant gibt dem Kategorischen Imperativ unter anderem eine Fassung, die dazu verpflichtet, die Menschheit in der Person des anderen wie in mir selbst niemals bloß als Mittel zu betrachten, sondern stets zugleich als Zweck in sich selbst anzuerkennen. Zwar benutzen wir Menschen ebenso wie Dinge immer auch als Mittel zu bestimmten Zwecken. Doch unser Verhältnis zu menschlichen Personen darf darin niemals aufgehen; denn jede menschliche Person ist ein Zweck in sich selbst. In dieser Selbstzweckformel kehrt der Gedanke wieder, dass kein Mensch einem anderen gegenüber einen vollständigen Verfügungsanspruch erheben darf.

Der Ethik der Würde den Vorrang vor einer Ethik der Interessen zuzuerkennen bedeutet nicht, die Existenz und Wirksamkeit von Interessen zu leugnen. Doch gerade wer das Vorhandensein von Interessen nüchtern anerkennt, kann sich der Frage nach ihrer Beurteilung und nach Kriterien dafür nicht entziehen, wie zwischen widerstreitenden Interessen entschieden werden soll. Vor allem muss die Frage beantwortet werden, bis zu welchen Grenzen die Durchsetzung von Interessen toleriert werden kann. Unser kulturelles Paradigma wie unsere Rechtsordnung sagen: Das Recht zur Durchsetzung von Interessen endet an der Grenze, die durch die Würde, die Integrität und die Freiheit der anderen Person bestimmt ist. Zwar enthält das Bonner Grundgesetz, einem modernen Verfassungsdokument gemäß, kein geschlossenes ethisches System; vielmehr sind die in ihm vorausgesetzten ethischen Grundentscheidungen für unterschiedliche Begründungen offen. Deutlich ist jedoch, dass es mit seiner Präambel und seinem Grundrechtsteil an die Grundlinien einer Ethik der Würde anknüpft. Diese Grundentscheidung wird durch die Pluralität der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht aufgehoben; vielmehr bleibt der Staat des Grundgesetzes an die Verpflichtung gebunden, dass die Durchsetzung von Interessen am Respekt vor der gleichen Würde aller Menschen ihre Grenze findet...

Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland haben in einer Gemeinsamen Erklärung über Organtransplantationen im Jahr 1990 erklärt: "Der Hirntod bedeutet ebenso wie der Herztod den Tod des Menschen." Sie haben damit zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Hirntod das Leben des Menschen irreversibel zu Ende ist. Diese Aussage, mit der die Kirchen sich an entsprechende Stellungnahmen der Bundesärztekammer anschlossen, hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Jedenfalls in der evangelischen Theologie und Ethik tendiert diese Diskussion zu dem Ergebnis, dass mit dem Hirntod das Leben des Menschen nicht irreversibel zu Ende ist, sondern irreversibel zu Ende geht. Der Hirntod markiert nach dieser Auffassung eine wichtige Wegscheide im Sterbeprozess; er ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass eine Rückkehr in ein bewusstes Leben nicht möglich ist.
 

Zwischen der Auffassung, dass mit dem Hirntod das Leben des Menschen irreversibel zu Ende geht, und der Position, nach der das Leben des Menschen mit dem Hirntod zu Ende ist, wird die Diskussion mutmaßlich noch lange hin- und herpendeln. Beide Seiten  werden gewichtige Argumente anführen; diese Argumente, so haben wir gesehen, sind tief im jeweiligen Menschenbild verankert. Es kann nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein, zwischen die beiden Aussagen zu entscheiden; vielmehr muss er einen Weg den, der auch die weiterreichende Auffassung schützt. Weiter reicht aber die Auffassung, die auch noch den Prozess des Sterbens von dem Respekt vor dem Leben des Menschen umfangen sieht.

Die Feststellung des Hirntodes bleibt auch dann von großer Bedeutung, wenn man den Hirntod nicht mit dem Tod des Menschen im Ganzen gleichsetzt. Denn der Hirntod markiert einen Prozess menschlichen Sterbens, jenseits dessen der oder die Sterbende nie wieder in einen Wachzustand zurückkehren kann und  jenseits dessen auch seine oder ihre Organfunktionen nur mit Mitteln der Intensivmedizin aufrechterhalten werden können. : Einsatz dieser intensivmedizinischen Mittel trägt deshalb in diesem Fall den Charakter einer Verlängerung des Sterbens.  Deshalb wird auch völlig legitimerweise auf den Hirntod bei der Beantwortung der Frage Bezug genommen, zu welchem Zeitpunkt eine Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen gerechtfertigt ist. Jenseits des Hirntods ist die Fortsetzung dieser Maßnahmen deshalb nicht mehr gerechtfertigt, weil sie eine Verlängerung des Sterbeprozesses darstellt, die mit der Pflicht zur Bewahrung des Lebens nicht zureichend begründet werden kann.

Aus dieser Perspektive muss auch die Organentnahme als ein Eingriff in den Sterbeprozess angesehen werden. Zu diesem Eingriff gehört in einem ersten Schritt, dass die Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen unterbleibt, weil das Leben um der Transplantierbarkeit der Organe willen durch den Ersatz der Gehirnfunktionen verlängert werden soll. Zu diesem Eingriff gehört sodann die Entnahme der Organe, womit auch die Wechselwirkung zwischen den Organen als Teilen eines lebendigen Organismus zu einem Ende kommt.

Verlängerung des Sterbeprozesses und Beendigung des Lebens verbinden sich bei der Organentnahme in eigentümlicher Weise. Beides kann nur dann gerechtfertigt werden, wenn es zum einen dem Willen des Sterbenden entspricht und wenn es zum andern dem Leben eines anderen Menschen unmittelbar und in notwendiger Weise dient. Denn ein solcher Eingriff in die Würde des Sterbenden kann nur dann Legitimität beanspruchen, wenn er von dem Sterbenden selbst bejaht wurde und wenn er dem Leben eines anderen Menschen in notwendiger Weise dient und so  zu dessen Würde in einer unmittelbaren Weise in Beziehung steh. Eine stellvertretende Zustimmung kann deshalb allenfalls als - problematischer - Ausnahmefall, keinesfalls als Regelfall in den Blick genommen werden."

aus: Hoff/in der Schmitten
 
 
Wolfgang Huber Professor Dr. theol., geb. 1942.
Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg; 2003-2009 Ratsvorsitzender der EKD

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Keine Sozialpflicht für Leichen
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