Heinz Zahrnt
Es geht um die Existenz
Gottes
1. Die naturwissenschaftliche
Welterklärung und historische Kritik
Bevor die Aufklärung
uns endgültig erreichte, war die Geschichte wie ein Fenster, durch
das man auf Gott blickte, und die Natur eine Art Tempelvorhof, gleichsam
Gottes Vorgarten; beide zusammen bildeten die numinose und darum zugleich
herrliche und schreckliche Randzone der Heiligkeit Gottes.
Wenn heute aber um 11.46
Uhr ein Flugzeug abstürzt, weil sich um 11.45 Uhr irgendwo in seinem
Motor eine Schraube gelöst hat, dann wagt dies kein Verständiger
mehr damit zu erklären, dass Gott dieses Unglück durch direkten
Eingriff verursacht habe und dass dies von Ewigkeit her sein Wille gewesen
sei. Und wenn heute Menschen hungern und unter dem Zwang ungerechter gesellschaftlicher
Verhältnisse seufzen, dann wagt kein Verantwortlicher mehr zu behaupten,
dass solches Unrecht von Gott verhängt sei, und die Betroffenen mit
der Aussicht auf das ewige Leben zu trösten. Denn in demselben Maße,
in dem die Wissenschaft infolge der Durchdringung des Kausalzusammenhanges
die Welt, völlig zu Recht, auf sogenannte natürliche Weise erklärte
und sie mit Hilfe der Technik planvoll gestaltete, wurde Gott aus der Welt
zurückgedrängt und verlor in der menschlichen Gesellschaft und
Existenz an Boden.
Dieser zunehmenden Verdrängung
Gottes aus der Welt entsprach eine zunehmende Machbarkeit aller Dinge durch
den Menschen. Fortan ist der Mensch nicht mehr nur Schauspieler auf der
Bühne der Welt, von oben oder außen gesteuert, sondern er führt
jetzt selbst Regie. Er ist aus einem Akteur zum Regisseur geworden. Dies
alles hat für ihn einen wesentlichen Verlust an Gotteserfahrung mit
sich gebracht: Wetter, Schlachtenglück, Krankheit, staatliche Ordnungen
und gesellschaftliche Wandlungen werden heute in ihren natürlichen
Ursachen durchschaut und damit ihres göttlichen Charakters entkleidet.
2. Der Wandel des Autoritätsbegriffes
Bevor die Aufklärung
uns endgültig erreichte, galt unbestritten als Autorität, was
man entweder von den Vätern überkommen hatte oder was einem von
Gott beschieden war - wobei Gott und die Väter meistens zusammenfielen.
Heute aber ist man nicht mehr bereit, eine Wahrheit nur daraufhin als verbindlich
anzunehmen, weil sie von außen, von Gott oder von den Vätern,
verbürgt ist. Die Berufung auf eine objektive äußere Norm
genügt nicht mehr zur Begründung einer Wahrheit, ob diese Norm
nun heißt »Es steht geschrieben« oder »Rom hat
gesprochen«. Selbst die Partei hat nicht mehr immer recht. Vielmehr
unterzieht man jetzt jede angebotene Wahrheit zunächst der Kritik
und nimmt sie erst auf, wenn sie sich auch von innen als wahr erwiesen
hat. Darum ist zum Beispiel der erhöhte Standort der Kanzeln in unsern
Kirchen zutiefst suspekt geworden. Er ist der Ausdruck eines autoritären
Monologes. Hier ergeht die Wahrheit von oben nach unten an das hörende
Volk. Heute aber wird die Wahrheit im Dialog gefunden, bei dem alle miteinander
auf demselben Boden sich befinden.
Mit dieser Wandlung der
Autorität aber hat auch der Gottesglaube seine Selbstverständlichkeit
eingebüßt. Er hört auf, jener bergende Lebensraum zu sein,
in den das Kind wie von selbst hineinwächst. Frommes Brauchtum und
christliche Sitte, die bis dahin das Alltags- oder Feiertagskleid des Glaubens
bildeten und ihn wie ein schützendes Gewand umgaben, lösen sich
auf, und die Erfahrungen, die die Mütter und Väter mit Gott gemacht
haben, werden nicht mehr übernommen . . .
3. Die soziologisch-ökonomische
Ideologiekritik
Bevor die Aufklärung
uns endgültig erreichte, herrschte ein unzerreißbarer Zusammenhang
zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, und damit zugleich eine
Interessenbeziehung zwischen dem einen Herrn im Himmel und den vielen Herren
auf der Erde. Der Herr im Himmel lieh den irdischen Herren etwas von seiner
göttlichen Macht, und diese revanchierten sich dafür, indem sie
für seine ordentliche Verehrung auf Erden Sorge trugen. Heute aber
ist niemand mehr bereit, irgendwelche autoritären Strukturen unbefragt
stehen zulassen und sich zu ihrer Begründung mit anderen als mit vernünftigen
Argumenten zu begnügen. Wie die Wissenschaft durch ihre Erforschung
des Natur- und Geschichtszusammenhanges alles religiöse Oben zerstörte
und das Universum aus einer Monarchie in eine Republik verwandelte, so
tat die marxistische Ideologiekritik dasselbe mit Hilfe ihrer Durchdringung
der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Die Lust
im Drüben oder auch im Trüben, wie Bloch einmal sagt, zu fischen,
wurde zerstört, indem die ökonomisch-soziologische Wurzel solcher
Lust aufgedeckt und die Religion als ideologischer Überbau, als falscher
Spiegel der Gesellschaft, kurzum als »Opium des Volkes verdächtigt
wurde. Alle himmlische Theokratie wurde aufgelöst und damit zugleich
auch alle irdische Hierarchie jedes metaphysisch- heteronomen Charakters
entkleidet. Mit dem himmlischen Oberherren stürzten auch die irdischen
Herren, mit dem göttlichen Allvater die irdischen Väter. Der
Mensch begann, sich von den Knien zu erheben und aufrecht zu stehen vor
Gott und vor seinem Landesherrn, vor dem himmlischen Vater und vor seinen
menschlichen Vätern. Selbst nicht immer ganz frei von jeder Interessenideologie,
wies die Gesellschaftswissenschaft nach, wie das Bild Gottes immer auch
von den Interessen der Gläubigen geprägt und überlagert
war. Weil die Bauern am guten Wetter interessiert waren, wurde Gott für
sie zum Wettergott; weil die Soldaten sich den Sieg wünschten, riefen
sie Gott als den Herrn der Heerscharen an; weil die Politiker ihre Macht
zu stabilisieren trachteten, beriefen sie sich auf Gott als den Hüter
der Ordnung; weil die Besitzer ihren Besitz behalten wollten, nannten sie
Gott den Geber aller Gaben. So suchte jeder unbewusst, sein eigenes Suppentöpfchen
auf dem göttlichen Feuer des Altares zu kochen.
Indem die Gesellschaftswissenschaften
aber diese Verbindung zwischen Gottesglauben und menschlichen Interessenideologien
aufdeckten, entstand ein Vakuum. Nachdem Gott nicht mehr der Garant ihrer
Interessen ist, wissen viele Menschen nicht mehr, worüber sie noch
mit ihm sprechen, weshalb sie ihn überhaupt noch verehren sollen .
. .
4. Die Bewusstseinsverschiebung
vom Jenseits zum Diesseits
Bevor die Aufklärung
uns endgültig erreichte, hielten die Menschen ihren Blick auf das
Jenseits gerichtet und fragten nach ihrem ewigen Heil. Und sie hofften,
dass die Antwort auf diese Frage ihnen helfen würde, auch ihr Leben
im Diesseits zu bestehen. Heute hingegen blicken die Menschen nicht auf
die Ewigkeit, sondern auf die Zeit, und fragen, wie sie das irdische Leben
bestehen können. Und sie hoffen, wenn sie denn überhaupt noch
solches hoffen, dass die Antwort auf diese Frage auch in der Stunde ihres
Todes durchhalten und sie ins ewige Leben geleiten möchte. Wie sich
das Lebensgefühl der Menschen in der Neuzeit genau um hundertachtzig
Grad gedreht hat, dafür zwei Beispiele:
Das erste stammt von Ernst
Bloch. In seinem Buch Atheismus im Christentum erzählt er: Wenn ein
Mörder noch um das Jahr 1700 zum Gerädertwerden von unten nach
oben, also zur damals grausamsten Todesart, verurteilt war und der Gerichtshof
ihn begnadigen wollte, falls er bereit wäre, in der Walpurgisnacht
den Hexensabbat auf dem Brocken mitzufeiern, dann wies der Verurteilte
diese Begnadigung zurück und ließ sich lieber aufs Rad flechten,
als dass er sich das ewige Heil seiner Seele verscherzte. Zweihundert Jahre
später begann man auf dem Brocken Maskenfeste zu feiern; die Damen
als Hexen, die Herren als Teufel verkleidet...
***
Aufgaben:
1.Legen sie dar, was unter
dem Prozess der Aufklärung zu verstehen ist !
2.Fassen Sie den Text von
Zahrnt unter dem Aspekt der fortschreitenden Aufklärung kurz zusammen
!
3.Welche Perspektiven könnten
sich für die christliche Religion aus seinen Überlegungen ergeben
?
4. Legen Sie Ihre eigene
Auffassung zum Text und zur Frage "Gottesglaube und Aufklärung" dar
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