Was ist Religion ?
 
reli-Rallye  
Kreuz und Quer durchs Internet

zurück

D. Stoodt
(Prof. für Praktische Theologie)
 

Religion in religionssoziologischer Betrachtung

Reduktion von Angst
Versuch, die Welt zu deuten
Versuch, Wertmaßstäbe zu geben
Institutionalisierung von Religion
Religion hat ihre Bücher, ihre Leitfäden, ihre Kurzformeln

 

1. Erstens ist die Religion für den einzelnen Menschen die Möglichkeit der Reduktion von Angst.
Statt Reduktion kann man vielleicht auch Bewältigung sagen. Es geht darum, dass menschliche Emotionen, Affekte, durch religiöse Verkündigungen oder religiöse Tätigkeiten oder religiöse Gemeinschaft überwunden oder doch unter Kontrolle gehalten werden können. Religion ist nicht einfach das Gefühl der Angst, aber sie bezieht sich darauf und sucht Geborgenheit zu vermitteln. Freilich, sie kann Menschen in der Angst befestigen, sie kann sie mit grundloser Geborgenheit einlullen; das wissen wir alle. Dann ist sie allerdings keine biblische Religion. Denn biblische Religion schränkt Angst ein, stabilisiert emotional, macht damit aber zugleich für eigene Einsichten und Handlungen sowie für Kommunikation stabil, die auf das Überschreiten der unmündigen Geborgenheit aus sind.

 

2. Religion ist zweitens die Fülle der Versuche, die Welt zu deuten.
Sie hat es zentral zu tun mit dem Stellen und dem Beantworten von Sinnfragen (Tod, Krankheit, usw.). Selbstverständlich weiß der Religionssoziologe, dass Intensität und auch das äußere Ausmaß des Stellens von Sinnfragen sozialschichten-spezifisch variiert: Man kann sagen, dass die Art und Weise, in der in Mitteleuropa Sinnfragen gestellt werden, eben typisch bürgerliche Schichten der Gesellschaft betreffen. Die Sinnfragen sind anders, ob man nur das zum Leben Notwendigste besitzt oder ob man ein relativ wohlhabender Bürger geworden ist. Dass aber überhaupt Sinnfragen gestellt werden, ist bisher in der Geschichte der Menschheit ein durchgehendes Element gewesen, und wir werden mindestens bei aller Vorsicht vorhersagen können, dass die Deutungen des Lebens, die Fragen z. B., warum gelitten werden muss, nicht aufhören werden, solange der Mensch lebt und leidet. Wiederum ist zu sagen, dass die Religion nicht einfach diese Sinnfragen produziert, diese Lebensdeutungen gibt, sondern wir müssen sagen, dass die Religion sich eben mit den Sinnfragen, die der Mensch hat, abgibt, dass sie auf die Rätsel des Leidens und des Lebens überhaupt Antworten zu geben versucht, Deutungsschemata bereitstellt.

 

3. Darüber hinaus ist aber die Religion auch der Versuch, Wertmaßstäbe zu geben.
So etwas wie die Zehn Gebote oder was auch immer in anderen Religionen an solchen grundlegenden Verhaltensmaßstäben zu nennen sein mag, sind ein zentraler Punkt der Religion, wenn sie religionssoziologisch aufgegriffen wird. Religion, in Westeuropa und Amerika: die biblische Religion, liefert verhaltenssteuernde Traditionen und Orientierungen. Religion beantwortet die Frage nach dem, was gut und böse ist. Sie setzt Sanktionen und Kontrollinstanzen ein, damit über diese Fragen gewacht wird. Auch für unsere Gesellschaft sind grundlegende Wertzusammenhänge gegeben, auch wenn es noch so extreme Alternativen, mit denen sie ausgelegt werden, gibt, und auch wenn bestimmte Werte leeren Hülsen gleichen können, Belanglosigkeiten in dem Sinn, dass sich Menschen in bestimmten Bedingungen völlig verschieden verhalten, obwohl dieselben Sinn- und Wertzusammenhänge bei ihnen eruiert werden können. Die Freiheit der Person, die Vergebung, die Feindes- und die Nächstenliebe, die verschiedenen Bezugnahmen auf die Verbote des Tötens, des Ehebruchs, des Stehlens und so weiter - man kann sich nicht vorstellen, dass dies alles eines Tages nicht mehr da sein sollte. Jedenfalls wäre eine Gesellschaft ohne einen grundlegenden Integrations-Mechanismus dieser Art undenkbar.

 

4. Religion gibt es nicht ohne Institutionalisierung von Religion.
Diese kann natürlich ganz verschieden aussehen. Einmal kann sich Religion institutionalisieren in den Basisgruppen der Familien, der kleineren Gemeinschaften, oder auch der Kommunen, seien es nun Klöster oder seien es Kommunen modernster Erscheinungsformen. Andererseits aber institutionalisiert sich die Religion auch in größeren Organisationen: in Gemeinden, in Kirchen, in weltanschaulichen Gruppen, wie der humanistischen Union, in Sekten, Freikirchen und Großkirchen. Hierbei ist zu beachten, dass wichtige Züge der Institutionalisierung von Religion als Kirche spezifisch zur biblischen Religion gehören und anderswo so nicht nachweisbar sind. Aber darüber kann jetzt nicht näher berichtet werden. Wichtig in unserem Zusammenhang ist aber, dass es Religion immer in irgendeiner Weise auch als organisierte Religion gibt, also nicht ohne Institution. Mag es in der reformatorischen Theologie bis in unsere Gegenwart hinein immer wieder Institutionsfeindschaft gegeben haben, und mag diese noch so sehr gerade theologisch und religiös motiviert sein - ohne jegliche Form von Institutionalisierung kommt keine Religion aus, wie übrigens keine geistige, politische oder kulturelle Bewegung.

 

5. Jede Religion hat ihre Bücher, ihre Leitfäden, ihre Kurzformeln, in denen man kurz schlagwortartig zusammenfasst, um was es einem geht. Heutzutage ist es modern geworden, solche Kurzformen zu diffamieren, als handle es sich bloß um Leerformeln, also um leere Hülsen, die man nach Belieben auswechseln könne. Dass daran vieles wahr ist, lässt sich schwer bestreiten. Andererseits kommt keine Gemeinschaft ohne derartige kurze Formeln aus. Diese Formeln haben die Funktion, ein Minimum an Gemeinsamkeit in der Verständigung herzustellen. Selbstverständlich bedürfen sie zur gegebenen Zeit der Präzisierung der Interpretation, der Weiterentwicklung - etwa durch die Theologie, wenn sie nicht zu bloßen Deklamationen, denen keine Wirklichkeit entspricht und bei denen sich niemand etwas denken kann, entarten sollen. Aber im ganzen gesehen, muss man sagen, dass die Religion ohne Kurzformeln und ohne Heilige Schriften nicht auskommen kann. Ob man nun an die Bibel oder an die Mao-Bibel denkt, an Glaubensbekenntnisse oder an ganz bestimmte moderne Aussagen wie Humanität, Mitmenschlichkeit usw. - Immer handelt es sich strukturell um dasselbe...

(In: Schönerberger Hefte, 1/1970)


zurück
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

reli-Rallye