reli-Rallye  
Kreuz und Quer durchs Internet

 

Gottesvergiftung
 
Der Psychoanalytiker Tillmann Moser 
beschreibt in seinem Buch "Gottesvergiftung" den Prozess seiner religiösen Erziehung bzw. Entwicklung. Bei ihm war es v.a. der übermächtige Gott, der sein Selbstwertgefühl beeinträchtigte und Schuldgefühle, Unsicherheit, Selbstverachtung hervorbrachte.
Anhand des Textes kann über die eigene religiöse Entwicklung nachgedacht werden, evtl. kann eine eigene religiöse Biographie erstellt werden.

 
"...Neulich war ich auf einem gruppentherapeutischen Training, und es ging um das Ausmaß von Hemmungen, das jeder mit sich herumträgt. Da fragte der Trainer, welche Sätze uns in unserem Leben am meisten eingeschüchtert hätten. Weißt du, was bei mir zum Vorschein kam als die mich domestizierende, einengende, schachmatt setzende stereotype Phrase. Was wird der liebe Gott dazu sagen?

Durch diesen Satz war ich früh meiner eigenen inneren Gerichtsbarkeit überlassen worden. Im Grunde mussten die Eltern gar nicht mehr sehr viel Erziehungsarbeit leisten der Kampf um das, was ich tun und lassen durfte, vollzog sich nicht mit ihnen als menschliche Instanz, mit der es einen gewissen Verhandlungsspielraum gegeben hätte, sondern die Selbstzucht, wie das genannt wurde, war mir überlassen, oder besser, der rasch anwachsenden Gotteskrankheit in mir.

Du hast mir dann kaum noch Chancen gelassen, mit mir selbst ein auskömmliches Leben zu führen. Weißt du, welches Wort mich mit einer abenteuerlich tiefen Angst erfüllt hat? Aussätzigkeit. Dir ist es doch tatsächlich gelungen, dass ich mich wegen meiner kleinen Durchschnittssünden jahrelang aussätzig fühlte. Und die Aussätzigen auf den biblischen Bildern wurden isoliert, an langen Stangen ließ man ihnen die Mahlzeiten reichen, sie mussten mit Klappern herumlaufen, damit niemand durch sie angesteckt wurde.

Über seelische Vorgänge, gar über Ängste, wurde in unserer Familie nicht geredet. So war ich deinem Wüten in mir ausgeliefert und hatte nicht einmal den Gedanken daran, dass es irgendwo Entlastung geben könnte. Dein Hauptkennzeichen für mich ist Erbarmungslosigkeit. Du hattest so viel an mir verboten, dass ich nicht mehr zu lieben war. Deine Bedingungen waren zu hoch für mich, und niemand hat sie gemildert, weil von einem bestimmten Punkt an nicht mehr davon die Rede war. Ich habe dich flehentlich gebeten, mich auf die Seite der Schafe. zu nehmen, doch ich wusste, dass ich zu den Böcken gehörte.

Es war mir als Kind so selbstverständlich, dass die Welt, die jetzige und die spätere, aus Geretteten und aus Verdammten bestand; das Fürchterliche war nur, dass ich, wie es auf manchen Bildern zu sehen ist, immer über dem Abgrund der Verdammnis hing und niemals wusste, wie lange der schmale Steg noch halten würde der mich trug Als im Religionsunterricht die Prädestinationslehre besprochen wurde, nach der es durch deinen unerforschlichen Ratschluss den Menschen von Anbeginn an bestimmt ist, ob sie zu den Geretteten oder den Verdammten gehören, überfiel mich eine entsetzliche Lähmung, weil alles ausweglos erschien. Mich faszinierte es, wie viele Mittel meinen katholischen Schulfreunden gelassen wurden, um sich doch noch zu retten, um Ablass zu erhalten. Ich lauschte oft atemlos ihren Berechnungen, wenn sie vor und nach der Kommunion, ihre Sünden und die Strafen und die Wiedergutmachungsforderungen berechneten, und wenn ihnen die Lage nicht aussichtslos erschien.

Ich habe dich, wie es mir deine Diener nahe legten, angestaunt ob deiner Güte, Abraham den Isaac nicht schlachten zu lassen. Du hättest es ja so leicht fordern können, er hätte es für dich getan, und mit dem Rest von Menschenwürde in deinem auserwählten Volk hätte es nur noch ein wenig fürchterlicher ausgesehen. Oder hast du vielleicht nur ein unverschämtes Glück gehabt, dass dir in letzter Sekunde die Idee kam, einen Engel an den Ort des geplanten Gemetzels zu schicken? Vielleicht wären dem guten Abraham doch noch Zweifel an den Vorteilen seiner privilegierten Beziehung zu dir gekommen, wenn ihn erst Isaacs Blut bespritzt hätte? Bei deinem eigenen Sohn warst du dann ungenierter und hast deinem Sadismus freien Lauf gelassen. Man hat mir weismachen wollen, dass du mit seiner Opferung am Kreuz den neuen Bund der Liebe hast einläuten wollen. Und wiederum habe ich versucht, auf allgemeine Aufforderung hin, dich anzustaunen, weil du für mich armen Sünder deinen einzigen Sohn geopfert hast. Das macht natürlich Eindruck. Wie schlecht muss ich sein, dass es einer solchen Inszenierung bedarf, um mich zu erlösen! Seltsam, seltsam - keiner von den Predigern hat je Verdacht geschöpft, dass vielleicht nicht mit uns, sondern mit dir etwas nicht stimmt, wenn du vor lauter Menschenliebe deinen Sohn schlachten lassen musstest. Und uns gibst du ihn dann zu trinken und zu essen, wie es heißt, zur Versöhnung.

Ich weiß, du hast nach mageren Jahren zur Zeit eher wieder Hochkonjunktur, und es könnte unfair scheinen gerade jetzt mit dir eine kleine Abrechnung zu halten Ich kann aber nichts dafür, wenn ich so unerhört lange gebraucht habe, dich zu durchschauen. Wie gesagt, ich hielt dich für verwest, bis ich entdeckte, dass du als Krankheit in mir weiterlebst..."
 

(aus: T. Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt/M. 1976, S. 16 f.)
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