Was wissen wir vom historischen Jesus?
 
Karl-Heinz Ohlig
Professor für Religionswissenschaft und Geschichte des Christentums

 
In dem folgenden Beitrag soll der heutige Forschungstand knapp zusammengefasst werden.

Der bekannteste Mensch
Rund ein Drittel der heute lebenden Menschen gehört zum Christentum. Ihrem eigenen Bekenntnis nach ist für sie - gleichgültig welcher Kirche oder Richtung sie angehören - Jesus von Nazareth der Mann, der im Mittelpunkt ihrer religiösen Praxis und Überzeugungen steht. Sicher entsprechen nicht alle Christen dem Idealbild eines Kirchenmitgliedes; viele haben nur noch eine recht lockere Verbindung zu ihrer Glaubensgemeinschaft bzw. leben in innerer Distanz zu ihr; solange sie aber nicht formell austreten, wird wohl für die meisten Jesus weiterhin eine gewisse Bedeutung besitzen. 
Dies lässt sich auch weit über die Grenzen des Christentums hinaus feststellen. Selbst in ganz anderen religiösen Kontexten gab und gibt es Leute, die - wie z.B. Mahatma Gandhi - Jesus als eine der wichtigsten humanen Gestalten einschätzen:

"Jesu ganze Verkündigung, wie ich sie verstehe, ist in der Bergpredigt zusammengefasst. Der Geist der Bergpredigt hat von meinem Herzen fast ebenso Besitz ergriffen wie die Bhagavadgita (ein Buch über Selbstoffenbarung des Gottes Vishnu in Krishna, Verf.). Die Bergpredigt ist es, die mir Jesus liebgemacht hat."

Auch von Atheisten - wie z.B. dem marxistischen Philosophen Milan Machovec - wird er mit Hochachtung erwähnt:

"Wenn wir sorgfältig die Geschichte jener verfolgen, die sich gegen das Christentum als Kult des vergöttlichten Jesus auflehnten, finden wir übrigens den sehr interessanten und offenbar charakteristischen Umstand, dass diese Polemiker und Kritiker eigentlich fast immer den Christen nicht vorwarfen, dass sie Anhänger Jesu sind, sondern im Gegenteil, dass sie es nicht sind, dass sie Jesu Sache verraten, dass für sie alle Eigenschaften des Pharisäertums zutreffen, die Jesus aufgezählt hat ...In solchen Fällen geht es also um die Kritik des Christentums in dieser oder jener Zeit, doch nicht um Kritik der eigentlichen Ideale Jesu ..." [1]

Darüber hinaus darf man wohl annehmen, dass die meisten Menschen zumindest von ihm gehört haben und in etwa wissen, wer er war.

Die große Bedeutung Jesu ist also keineswegs als ein Überbleibsel vergangener Zeiten zu betrachten. Zwar gibt es nicht wenige Länder, in denen das Christentum an Faszination zu verlieren scheint, aber in anderen Regionen der Erde sieht es anders aus: Gerade in jüngster Zeit breitet sich das Christentum dynamisch in außereuropäischen Kulturen aus; die Zahl der Taufen übersteigt dort oft die Zahl der Geburten, und viele sehen im Christentum eine Kraft, die sie aus bisherigen Zwängen, von Ängsten und von Orientierungslosigkeit befreien kann.

Die beeindruckende und von keinem anderen Menschen bisher erreichte Wertschätzung und der noch höhere Bekanntheitsgrad ist einigermaßen erstaunlich. Er bezieht sich auf einen Mann, der vor rund zweitausend Jahren lebte, nur kurze Zeit öffentlich auftrat und als Verbrecher hingerichtet wurde. Er selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen, sein Leben spielte sich in einer entlegenen Ecke der Welt und fern von den damaligen Zentren kultureller oder politischer Aktivität ab und ist in seinen Abläufen nur recht ungenau bekannt. Er hat auch nichts getan oder gesagt, was populär oder bei seinen Zuhörern leicht eingängig wäre, und er verlangt von seinen Anhängern nicht gerade wenig, so dass die von ihm geforderte "Nachfolge" recht anspruchsvoll ist.

Kirchliche Verkündigung und geschichtlicher Jesus
Manche Kommentatoren meinen deshalb, die ungeheure Bedeutung, die Jesus im Lauf der Geschichte bis heute gewinnen konnte, hänge gar nicht von ihm selber ab. Sie habe vielmehr ihren Grund in den bald nach seinem Tod um ihn sich rankenden Mythen, in seiner "Vergottung" oder überhaupt in dem gewaltigen kirchlichen "Kerygma", der Verkündigung. Tatsächlich ist es oft recht schwierig, hinter allen großartigen Interpretationen den historischen Menschen Jesus zu erblicken, in den neutestamentlichen Texten, die durch den Glauben der frühen Gemeinden geprägt sind, zu Jesus selbst vorzustoßen, in der Predigt der Kirchen noch ihn und das, was er wollte, wahrzunehmen.

Sicherlich ist Jesus durch die Verkündigung auch "hochstilisiert" und darüber hinaus den Bedürfnissen der jeweiligen Adressaten "angepasst" worden. Dann wurde von ihm so erzählt, wie die Zuhörer ihn sehen wollten oder "brauchten". Das allein aber scheint nicht die bleibende Faszination dieses Mannes erklären zu können. Diese setzt sich oft sogar gegen die kirchliche Predigt von ihm durch, wie der häufig zu hörende Slogan "Jesus ja, Kirche nein" andeuten kann; auch in den außereuropäischen Kulturen, in denen die Mission erfolgreich ist, bezeichnen die dortigen Christen nicht selten das von westlichen Missionaren vermittelte Kerygma als "kolonialen" europäisch-westlichen "Import", sie empfinden es also als kontraproduktiv. Oft scheinen also gerade Aspekte an Jesus zu interessieren, die dem kirchlichen Kerygma zuwiderlaufen: seine Armut statt seiner göttlichen Herrlichkeit, seine Niederlage statt seines Sieges, seine Angst statt seiner Souveränität. So scheint eher umgekehrt die Wirkung, die von Jesus auf viele ausgeht, die gesamte dogmatische Tradition zu tragen.

Seit der europäischen Aufklärung werden die Bibel und die kirchlichen Überlieferungen historisch-kritisch, also mit den Methoden historischer Vernunft, analysiert. Seitdem wird zunehmend bewusst, dass eine recht große Kluft besteht zwischen dem Christus des Glaubens, dem "kerygmatischen Christus", und dem geschichtlichen Jesus, zwischen dem verkündigten und dem verkündigenden Jesus.

Albert Schweitzer hat im Jahre 1906 in seinem Buch "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" eine Forschungsrichtung, die immer neue "Leben Jesu" zu rekonstruieren versuchte, hart kritisiert, weil sie allzu sehr eigene Vorstellungen auf einen Jesus projiziere, der ganz anders war und der auch historisch nicht mehr hinreichend zugänglich sei. Selbst beging er aber den gleichen Fehler, indem er Jesus als einen Apokalyptiker zeichnete, der gänzlich von der Vorstellung der Naherwartung beherrscht gewesen sei.[2]

Jedenfalls ist die zeitweise beliebte Übung, immer neue "Leben Jesu" oder "Biographien" Jesu zu entwerfen, beinahe gänzlich zum Erliegen gekommen. Wichtige theologische Richtungen waren, und manche sind noch der Meinung, darauf komme es auch gar nicht an; nicht der geschichtliche Jesus, sondern nur das christliche Kerygma sei für das religiöse Leben wichtig.

Allmählich aber kommt man von diesen oder vergleichbaren Thesen, die ein "Ende der Leben-Jesu-Forschung" postulieren, wieder ab. Zunehmend wird betont, dass schon die frühesten Formen der Verkündigung nur zu erklären sind, wenn man annimmt, dass die ersten Jünger durch die Begegnung mit dem jüdischen Wanderprediger Jesus überhaupt dazu veranlasst wurden, ihn nicht nur für sich, sondern auch für andere oder gar "für alle" als heilsbedeutsam anzusehen und zu predigen. So wird der geschichtliche Jesus wieder stärker als Ursprung, Gegenstand und Maßstab des Christentums begriffen.

Dieses "neue" Interesse an dem Jesus der Geschichte findet nicht mehr wie früher seine unüberwindbaren Grenzen an der kerygmatischen Gestalt des Neuen Testaments. Die Verfeinerung der exegetischen Methoden sowie der Zuwachs an zeit- und religionsgeschichtlichem Wissen lassen manchen Blick auf den historischen Jesus und seine Verkündigung zu.

Allerdings muss man damit rechnen, dass viele durchaus wichtige Fakten des Lebens Jesu nie mehr zu rekonstruieren sein werden, weil die damaligen christlichen Autoren nur an Aspekten interessiert waren, die Jesus als heilsbedeutsam erscheinen ließen. Alles andere, auch durchaus wichtiges biographisches Material, fand nicht ihre Aufmerksamkeit, z.B. wann und wo Jesus geboren wurde, wie er aufwuchs, wie er aussah, was er bis zu seinem öffentlichen Auftreten machte usf. So bleibt es ein weit verbreiteter Konsens der Theologie: "Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben"[3]. Beinahe sein gesamtes Leben vor dem Beginn seiner öffentlichen Predigt liegt im Dunkeln, und auch von da an lassen sich nur wenige Fakten festmachen. Mehr schon ist über seine Predigt, seine Ziele und seinen Anspruch oder - wie man heute oft sagt - über seine "Sache" bekannt; ihre Konturen lassen sich einigermaßen deutlich nachzeichnen. Aber es wird auch hierbei so gut wie unmöglich bleiben, ein einzelnes Wort, wie es die Evangelien überliefern, als "echtes" Jesuswort nicht nur mit guten Gründen anzunehmen oder als historisch höchst wahrscheinlich zu bezeichnen, sondern auch nachweisen zu können.

Einen wichtigen Zugang zum geschichtlichen Jesus bieten die jüdische Religion und Geschichte, näherhin die unmittelbare Vor- und Zeitgeschichte des Frühjudentums und Palästinas. Die Kenntnis dieses Umfeldes steckt die Grenzen dessen ab, was damals möglich oder nicht möglich war, und lässt die Gestalt Jesu deutlicher hervortreten. Das Neue Testament, das daneben die wichtigste Quelle bleibt, muss somit nicht die ganze "Beweislast" tragen. Weil Stoffe aus dem Leben und der Predigt Jesu in den übrigen neutestamentlichen Schriften kaum vorkommen, auch nicht bei dem frühesten Autor, bei Paulus, sind die vier Evangelien die Hauptquelle. Zwar gibt es auch in den sogenannten apokryphen Evangelien, die später nicht ins Neue 
Testament aufgenommen wurden, einige Worte, die auf Jesus zurückgehen könnten, aber dieses Material ist spärlich und kann keine zusätzlichen Einblicke bieten.[4]

Die historisch-kritische Erforschung macht aber den früher hin und wieder geäußerten Zweifel, ob Jesus überhaupt gelebt habe, gegenstandslos. "Dass er als Urheber hinter der geschichtlichen Bewegung steht, deren erstes greifbares Stadium die älteste palästinensische Gemeinde darstellt, ist völlig deutlich"[5].

Außerbiblische Hinweise
Zumindest dies bestätigen auch außerbiblische Zeugnisse, die naturgemäß nur dünn gesät und relativ nichtssagend sind; die Jesusbewegung wurde erst einige Zeit später eine Größe, mit der sich auch Nichtchristen auseinandersetzen mussten. Der jüdische Schriftsteller Josephus Flavius[6] und der Talmud[7] bieten Hinweise auf Jesus, die wenigstens seine Existenz und auch seinen gewaltsamen Tod bestätigen.

Im fernen Rom berichtete im Jahre 116 oder 117 n.Chr. der Geschichtsschreiber Tacitus in den Annalen über die Hinrichtung Jesu durch Pontius Pilatus[8]. Allerdings wird dieser Hinweis wohl kaum auf eigene Nachforschungen des Tacitus zurückzuführen sein, sondern das wiedergeben, was von den Christen selbst erzählt wurde. So bieten die außerbiblischen Zeugnisse nicht viel an Informationen; für alle weiteren Fragen bleiben wir auf die Evangelien angewiesen.

Der Rahmen des Lebens Jesu
Der chronologische Ablauf des Lebens Jesu kann zwar ungefähr bestimmt werden, aber genauere Angaben sind schwierig, weil kein einziger neutestamentlicher Autor Jesus persönlich kannte, und manche besaßen auch keine genauere Vorstellung von der Topographie Galiläas oder Judäas: "Kein einziges Datum der Geschichte Jesu steht mit Sicherheit fest"[9].Einmal stimmen die drei synoptischen Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas[10] mit dem Johannesevangelium nicht überein. Während die Synoptiker[11] z.B. nahe legen, dass Jesus in Galiläa lehrte, dann nach Jerusalem zog und dort hingerichtet wurde, so dass er ungefähr ein Jahr lang öffentlich wirkte[12], scheint Jesus bei Johannes drei- oder viermal in Jerusalem gewesen zu sein, so dass er zwei bis drei Jahre öffentlich gepredigt haben müsste. Nach Johannes fand die Tempelreinigung zu Beginn des Wirkens Jesu (Joh 2,13-22), bei den Synoptikern erst am Ende statt; nach den Synoptikern wurde Jesus am 15. Nisan, am Paschafest, gekreuzigt, nach Johannes am Abend vorher usf.

Darüber hinaus sind überhaupt Zeit- und Ortsangaben spärlich, ungenau und zudem schwer zu deuten (z.B.: "in jener Zeit...", "von da ging Jesus in eine andere Stadt..."). Lukas erzählt z.B. als einziger, dass Jesus bei seiner Taufe im Jordan "ungefähr dreißig Jahre" alt war (3,23); aber ist diese Zahl symbolisch zu nehmen, weil sie in der Antike und auch im Alten Testament als Idealalter galt, oder muss man sie wörtlich auffassen?

Markus erzählt das Leben Jesu von seiner Taufe bis zu seinem Tod, Matthäus und Lukas benutzten ihn als Vorlage und folgten ihm in diesem Aufbau, setzten aber an den Beginn die sog. Kindheitsgeschichten, die unterschiedliche Erzähltexte der damaligen Christengemeinden überliefern. Das Johannesevangelium stellt statt dessen einen Hymnus über Gott und seinen Logos voraus. Alle diese Vorschaltungen sollen, wie in einem Präludium, klarstellen, dass Jesus von Anfang an der von Gott Erwählte war; sie tun dies entweder mit einer abstrakten theologischen Aussage ("Das Wort ist Fleisch geworden", Joh 1,14) oder in legendarischen Erzählungen (so Matthäus und Lukas).[13] Eingewoben in diese Texte bieten letztere einige Verweise, deren historische Aussagekraft umstritten ist.

Bethlehem oder Nazareth?
Als Jesus geboren wurde, gehörte seine Heimat schon seit dem Jahre 63 v.Chr. zum Römischen Reich.[14] Zunächst übten die Römer eine indirekte Herrschaft aus; der jüdische König Herodes der Große (40-4 v.Chr.) durfte als ihr Lehnsmann ein recht großes Gebiet mit mehr als einer Million Einwohner regieren. Matthäus und Lukas berichten übereinstimmend, dass Jesus in den Tagen des Königs Herodes geboren wurde. Wenn dies zutrifft, muss er spätestens im Jahre 4 vor Beginn unserer Zeitrechnung geboren sein.[15] Nach dem Lukasevangelium (2,1-3) zog Josef mit Maria nach Bethlehem, weil Kaiser Augustus[16] durch seinen syrischen Statthalter Quirinius eine "Schätzung", eine Art Volkszählung, durchführen ließ. Hier gibt es Probleme, weil zu der fraglichen Zeit ein Statthalter dieses Namens nicht in Syrien war; Josephus Flavius berichtet von einer solchen "Schätzung", allerdings erst für das Jahr 6 n.Chr. Vielleicht nutzte man die Überlieferung, dass es einmal vor längerer Zeit eine solche "Schätzung" gegeben hatte, dazu, eine theologische Aussage zu machen: Für Matthäus und Lukas[17] ist Jesus der "Sohn Davids" - ein Ehrenname für den erhofften Messias -; Bethlehem aber ist die Geburtsstadt Davids. Sollte die "Schätzung" ein theologisches Stilmittel sein, die Geburt in Bethlehem stattfinden zu lassen und somit Jesus - symbolisch - als Messias zu bezeichnen? Ansonsten ist er im Neuen Testament immer der Mann aus Nazareth. Matthäus überliefert auch die schöne Geschichte von dem Stern und der Anbetung der Magier (2,1-12). Auch hier geht es vor allem um das Bekenntnis zu Jesus, wie es für Matthäus wichtig war: Auch die "Heiden", die Weisen aus dem Morgenland, beten das Kind an; er ist der universale Herr.[18] In die Geschichte verwoben ist die Notiz von einer auffallenden Himmelserscheinung. Wird sie nur als "Material" eingebaut oder ist sie als Faktenaussage zu verstehen? Nicht wenige Forscher vertreten letzteres und verweisen auf eine "große Konjunktion" von Jupiter und Saturn im Sternbild der Fische im Jahre 7 v.Chr. Sie meinen deshalb, Jesus sei damals geboren worden. Allerdings bleiben hier Unsicherheiten. Es lässt sich nicht mehr sagen, als dass Jesus wohl zwischen den Jahren 7 und 4 v.Chr. geboren wurde; alles spricht für den Geburtsort Nazareth, damals ein kleines Dorf von vielleicht hundert bis hundertfünfzig Einwohnern.

Herkunftsfamile und Beruf
Jesus wuchs also in einer kleinräumigen Dorfumgebung bei seinen Eltern Joseph und Maria und seinen Geschwistern auf[19] und wird über die dortigen Bildungszugänge verfügt haben. Er sprach Aramäisch[20], konnte es lesen und wohl auch schreiben, verstand Hebräisch und vielleicht ein wenig Griechisch, die damalige Umgangs- und Gebildetensprache im Römischen Reich.

Zwar war er armer Herkunft; entweder waren er selbst (Mk 4,3; 6,3) oder sein Vater (Mt 13,54) oder beide "Tekton" (griechisch etwa: Zimmermann, Bauhandwerker o.ä.). Aber offensichtlich wurde in dieser Umgebung viel gesprochen und erzählt, und Jesus konnte sich auch in der Synagoge[21] die Vielfalt der Ausdrucksformen der hebräischen Bibel aneignen, so dass er später beeindruckende sprachliche Fähigkeiten zeigte: er schuf genial-einfache Gleichnisse, formulierte knappe und "dichte" Sprüche und andere Redeformen. In seiner Gegend passierte nicht viel; Herodes Antipas baute die von den Römern zerstörte Residenz in Küstennähe wieder auf und gründete ab 17 n.Chr. die Stadt Tiberias am See von Genezareth. Manche vermuten - aber dafür gibt es keine positiven Hinweise -, dass Jesus an dieser oder ähnlichen Baustellen beschäftigt war, so dass er immer wieder wandern musste und vielleicht deswegen zu Beginn seines öffentlichen Wirkens noch - damals ungewöhnlich - nicht verheiratet war.

Im Übrigen war Jesus - das zeigt seine spätere Predigt - vom frühjüdischen Denken Palästinas bestimmt. Besonders prägend war hierbei die theologische Richtung der Apokalyptik.

Die Apokalyptik ist eine eigentümliche Weiterentwicklung vor allem der prophetischen Tradition. Sie hatte seit der Makkabäerzeit, Mitte des 2. Jhs. v.Chr., eine Art Trostliteratur für die bedrängten Frommen hervorgebracht. Die gegenwärtige Notlage sollte durch den Blick auf die kommende Königsherrschaft Gottes, in der Gottes Gerechtigkeit sich durchsetzt und die für bald erwartet wurde, erträglich gemacht und so die Gläubigen zum Durchhalten aufgerufen werden. Viele Menschen in Israel teilten damals die "Naherwartung", lebten also in dem Empfinden, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne; eine Wende von Gott her solle alles - hoffentlich bald - zum Guten wenden. Viele versuchten, den Zeitpunkt zu berechnen, an dem die Wende kommen sollte. Man glaubte, dass sie durch das Kommen des Menschensohnes "auf den Wolken des Himmels" und eine Weltkatastrophe eingeleitet wird; ein Weltgericht setzt dann den neuen Äon, die Königsherrschaft Gottes, durch. 

Z.Zt. Jesu bestimmten drei religiöse "Parteien" das Bild: Pharisäer, Sadduzäer und Essener. Die Wurzeln der pharisäischen Bewegung reichen bis in die frühe nachexilische Gemeinde im 6. Jh. v. Chr. zurück. Sie stellten das Gesetz in den Mittelpunkt ihres Lebens und der Gemeinschaft; beileibe nicht alle taten dies auf eine engstirnige oder selbstgerechte Weise, wie es in der Polemik der Evangelien erscheinen kann. Die Sadduzäer, eine priesterliche Gruppe, nahmen politische Rücksichten auf die Römer und waren auch sonst nicht an ganz engen jüdischen "Mitgliedsbedingungen" interessiert. Die Essener erwuchsen aus dem Widerstand gegen hellenistische Einflüsse schon seit dem 2. Jh. v. Chr. Sie versuchten eine strenge Absonderung von der Welt, die in mönchischer oder - für Eheleute - asketischer Weise verwirklicht wurde; Qumran war das bedeutendste Zentrum dieser Bewegung. Darüber hinaus sind noch die Zeloten zu erwähnen, die die Ablehnung fremder Einflüsse auch mit der Waffe in der Hand betrieben.

Der Täuferschüler
War Johannes der Täufer ein Mann aus Qumran? Wenn die Schilderung seines Auftretens ("in der Wüste", ein Gewand aus Kamelhaaren, Ledergürtel, als Nahrung Heuschrecken und wilder Honig, Mk 1,4.6; Mt 3,4; Lk 3,2) nicht nur idealtypisch die Lebensform eines Propheten charakterisieren soll, sondern auch historische Reminiszenzen einschließt, könnte sie ein Verweis auf das jüdische Kloster Qumran[22] in der Wüste am Toten Meer sein. Auch seine Verkündigung kennt viele Übereinstimmungen mit Vorstellungen in der dortigen jüdischen Mönchsgemeinde. Allerdings interessierten sich die Mönche nur für ihre Gemeinschaft; der Täufer müsste sie also verlassen haben, um ihre Ideen "allen" weiterzugeben.

Nach Lukas (3,1) fing Johannes "im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius" zu predigen an. Je nachdem, wie man diese Regierungsjahre zählt, ergibt sich hier ein Zeitraum von Oktober 27 bis September 28 oder zwischen April 28 und August 29 n.Chr. Welches Datum man auch wählt, ist diese Täuferpredigt in jedem Fall als der Beginn der entscheidenden Wende im Leben Jesu anzusehen. Die Täuferpredigt riß ihn, wie nicht wenige seiner Landsleute, aus ihrem Alltag heraus; Jesus verließ sein Dorf und seinen Beruf, und von jetzt an gilt sein ganzes Interesse religiösen Dingen. Die Predigt des Johannes entsprach sicherlich - wie ihr Erfolg zeigt - vielen Erwartungen seiner Zuhörer und führte sie weiter. Auch für Jesus muss somit angenommen werden, dass er sich in seinem bisherigen Alltag mit vergleichbaren Fragen befasst hat. Jetzt lässt er sich im Jordan taufen und wird Johannesschüler.
Die enge Verbindung der Anfänge Jesu mit dem Täufer wird noch greifbar in der sehr alten Logien- oder Spruchquelle, neben dem Markusevangelium die zweite große Quelle für Matthäus und Lukas; die Täufertraditionen machen in dieser Sammlung von Jesusworten gut ein Zehntel des gesamten Stoffes aus. Weil es auch noch Generationen später Gruppen gab, die den Täufer verehrten, so dass sie mit der Jesusbewegung konkurrierten, zeichnen ihn die Evangelien als Vorläufer Jesu, der auf diesen hingewiesen habe. Aber zumindest die sehr frühe Logienquelle kennt keinen unmittelbaren Verweis des Täufers auf Jesus. Wie Johannes nach seiner Anfrage an Jesus aus dem Gefängnis heraus (Mt 11,2-6 = Lk 7,18-23) reagierte, ist nicht überliefert.

Das große Thema des Täufers war das Kommen des Messias[23] und die unmittelbar bevorstehende Königsherrschaft Gottes. Jetzt komme es für alle darauf an umzukehren, um nicht dem Gericht zu verfallen. Auf diese Botschaft ließ Jesus sich taufen - die früheste Information zu den religiösen Anschauungen Jesu. 

Das Evangelium Jesu
Bald aber fing Jesus selbst in Galiläa zu predigen an. Nach Markus (1,14) und Matthäus (4,12) erfolgte dies nach der Gefangennahme des Täufers, nach Johannes (1,35-49) sammelte Jesus schon in Judäa einige der Täuferjünger um sich und taufte zeitweise noch parallel und in Konkurrenz mit ihm (3,22-30; 4,1-3). Auf jeden Fall aber sah die Verkündigung Jesu, die ansonsten in Sprache, Bildern und Motivationen die Täufertradition weiterführte, von Anfang an in einem entscheidenden Punkt anders aus. Dies könnte die Version des vierten Evangeliums stützen, dass er sich noch in Judäa vom Täufer trennte und eigene Jüngerkreise um sich sammelte. Dieser Dissens aber ließ Jesus seine große Wertschätzung des Täufers (Mt 11,7-14 = Lk 7,24-29) nicht verlieren.

Sachlich bestand der Grund für die Trennung in einem anderen Gottesbild und damit verbunden in einer anderen Auffassung von der Zugehörigkeit zum Reich Gottes. Nach Johannes war die Umkehr die unverzichtbare Bedingung, dem Gericht zu entgehen und zur Königsherrschaft Gottes zugelassen zu werden; Gott wurde als unerbittlich strenger Richter vorgestellt. Anders bei Jesus. Im Rückgriff auf ältere prophetische Traditionen Israels (Hosea, Jeremia, Exilspropheten) sah er Gott als liebenden, erlösenden Gott und redete ihn, wie auch andere in frühjüdischer Zeit, mit Abba, Vater, an. Er verkündete, wie sein Lehrer, die Nähe der Königsherrschaft Gottes und die Umkehr. Letztere aber ist nicht Bedingung für die Zugehörigkeit zum Reich Gottes, sondern Folge. Das ethische Tun des Menschen ist nicht die Leistung, die zuvor erbracht werden muss; das Reich Gottes ist geschenkt, und deswegen soll man sich jetzt anders verhalten. Auch der "Arme im Geist", der Zöllner, die Dirne oder allgemein der Sünder gehören zum Reich Gottes.

In seiner Predigt wandte sich Jesus an "alle": sowohl an Pharisäer und Sadduzäer wie an die einfache Bevölkerung, aus deren Reihen er seinen engeren Jüngerkreis sammelte, und an Randgruppen. Es wäre falsch, ihn ausschließlich oder auch nur hauptsächlich in Verbindung mit "Zöllnern, Dirnen und Sündern" zu sehen, wie es die Polemik seiner Gegner hinstellt. Diese zeigt aber, dass er auch die am Rande oder sogar außerhalb der religiös geprägten Gesellschaft Stehenden anredete, auf sie zuging und mit ihnen - was wohl besonders anstößig war - Mahl feierte.

Trotz aller Parallelen und seiner Herkunft vom Täufer bietet die Predigt Jesu, später "Evangelium", Frohe Botschaft, genannt, also ein anderes Konzept. Dies gilt auch für einige weitere Aspekte: Johannes war ganz von dem unmittelbaren Bevorstehen der Königsherrschaft durchdrungen, dieses Thema greift auch Jesus auf: "Die synoptischen Evangelien und die Logienquelle sind sich darin ausnahmslos einig, dass ihre und ihrer Gemeinden Rede von der Gottesherrschaft auf Jesu Verkündigung aufbaut und seine Verkündigung dadurch gekennzeichnet ist, dass er diesen Ausdruck als Leitwort für sie wählte ...

Es gibt nämlich kein anderes Zentralwort, noch ein anderes überragendes Thema, das sonst Jesu Botschaft insgesamt kennzeichnen könnte als eben die Gottesherrschaft. Gott und seine Herrschaft, das ist Jesu Thema. Darum war Jesus kein neuer Toralehrer ...; er war auch kein Weiser ... und er war kein charismatischer Wunderrabbi ... Er lebte nicht eine bestimmte Humanität mit sozialer Komponente ... Eine Beschreibung der Gestalt Jesu ohne zentrale Entfaltung des mit dem Wortsignal Gottesherrschaft gesetzten Themas verfehlte ihn... Das plakatartige Zentralwort ist Inbegriff des gesamten Wirkens Jesu"[24]

Aber für Jesus war die Königsherrschaft Gottes schon - mit seinem Kommen - angebrochen; sie wird zur gegenwärtigen Größe, und die bisherige Geschichte gehört einer vergangenen Phase an. Weil das Reich Gottes "schon jetzt" da ist, aber die nach Meinung der jüdischen Apokalyptik und wohl auch Jesu mit ihr verknüpfte "Ereignisse" noch nicht eingetreten sind, werden diese erst für die - baldige - Zukunft erwartet. Aus der futurischen Vorstellung des Täufers ist eine eigentümliche Doppelung in Gegenwart und Zukunft geworden, so dass die Gegenwart wieder Chancen bot und die Zukunft Vollendung und nicht nur eine radikale Zäsur brachte. Ganz offensichtlich war Jesus überzeugt, dass die Zeitenwende mit ihm selber eingeleitet ist; dies zeigen eine Reihe von Worten, die mit großer Gewissheit auf ihn selbst zurückzuführen sind.

Der Anspruch Jesu
Jesus verstand sich somit nicht nur als eine Gestalt vor dem Anbruch des "Endes" dieses Zeitalters, wie der Täufer, sondern als Beginn und Katalysator des Reiches Gottes. Zwar nahm der geschichtliche Jesus keinen der Hoheitstitel für sich in Anspruch, die die Evangelien ihm später, aus ihrem Glauben heraus, in den Mund legten. Dennoch aber war sein Anspruch, gewissermaßen "zwischen den Zeilen" oder "implizit", sehr groß, so dass die späteren Würdenamen durchaus als Reaktion aufgefasst werden können und ihm nicht einfach "aufgepfropft" wurden.

Dies zeigt sich auch in der Art, wie er seine Jünger - nicht wenige waren aus dem Kreis des Johannes zu ihm gekommen -, nicht, wie andere jüdische Gesetzeslehrer, um das Gesetz, sondern um sich selbst sammelte und persönliche Nachfolge verlangte, eine Nachfolge, die heilsentscheidend sei: "Ich sage euch: wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln des Himmels bekennen" (Lk 12,8).

Obwohl er ein gesetzestreuer Jude war, ging er in großer Freiheit mit den sakralen Vorschriften um, die er unterschiedlich gewichtete (Recht, Barmherzigkeit und Treue sind wichtiger als der Zehnte, Mt 23,23), relativierte (z.B. die mosaische Zulassung der Ehescheidung, Mk 10,3-9) oder auf ihren Sinn durchsichtig machte ("Der Sabbat ist um des Menschen willen da ...", Mk 2,27).

Jesus war kein Theologe, erst recht kein Systematiker, der eine geschlossene neue "Lehre" vortrug. Dennoch wurden seine vielfältigen, oft revolutionären Impulse von seinen Jüngern mit der Zeit in einem ähnlichen Sinn verstanden und in einigen Kernpunkten vom Verfasser des Matthäusevangeliums in der "Bergpredigt" (Mt 5-7) zusammengestellt, in der Jesus als neuer Mose gezeichnet wird.

Das Verhalten Jesu
Seine "Sache" artikulierte Jesus nicht nur sprachlich, sondern auch in seinem Verhalten. Er bot vielen, die nach damaligen religiösen Vorstellungen geächtet waren, Gemeinschaft an und aß und trank mit ihnen; diese programmatischen "Sündermahlgemeinschaften" wurden von den Gemeinden nach seinem Tod in der Praxis des "Herrenmahls", in den eucharistischen Feiern, fortgeführt. Auch von seinen Jüngern verlangte er, dass sie den anderen ihre Sünden vergeben, wie sie es auch für sich von Gott erhoffen (vgl. "Vaterunser"), dass sie "siebenmal siebzigmal" zu verzeihen (Mt 18,22) und nicht richten (Mt 7,1.2). Obwohl Jesus "allen" Solidarität zeigte und soziale Barrieren nicht achtete, womit sie der Sache nach gegenstandslos wurden (was sich aber oft erst viele Jahrhunderte später auch in einer Änderung gesellschaftlicher Regeln auswirkte), war er kein Gesellschaftsveränderer; es ging ihm um die "letzte", die religiöse Dimension.

Ein Wundertäter?
In den Evangelien werden Jesus große Machttaten und Zeichen zugeschrieben. Die Historizität dieser "Wunder" ist umstritten; auffällig ist, dass sich der früheste literarische Zeuge, Paulus, bei seiner Missionspredigt nicht auf sie stützt. Ist die Wundertradition erst später entstanden? Jedenfalls lässt sich feststellen, dass die Zahl der Wunder wächst und diese umso gewaltiger werden, je jünger eine Überlieferungsschicht ist. Sie alle sind nach einem in der Antike verbreiteten Schema erzählt[25]und haben immer eine christologische Sinnspitze. Handelt es sich also um geschichtliche Berichte oder um besondere theologische Aussageformen, die in legendarischen Erzählungen das Christusbekenntnis anschaulicher machen wollen?

Die in Sprache, Theologie und Motiven ältesten Wundererzählungen handeln von "Dämonenaustreibungen", in denen Jesus "Dämonisierungen" von Menschen durchbricht und ihre anscheinend psychosomatischen Folgen heilt (z.B. Mk 5,1-20; 9,14-27). Vielleicht ist in Begebenheiten dieser Art der historische Kern der neutestamentlichen Wundertradition zu sehen. Tatsächlich könnte die Überzeugung Jesu, dass durch ihn die Herrschaft der Dämonen gebrochen ist (vgl. Mk 3,23-30 Parr), als Folge seiner Verkündigung vom Anbruch des Gottesreiches verstanden werden, so dass von daher eine gelegentliche exorzistische Tätigkeit denkbar ist. Die genannten "Machttaten" (Mt 11,21-23 = Lk 10,13-15) zeigen, dass Jesu Auftreten beeindruckende Wirkungen haben konnte, und sind wohl bald gemäß dem verbreiteten antiken Wunderschema erzählt worden, das - sobald es einmal angewendet war - späteren Predigern und Christengemeinden den Anstoß gab, es mittels neuer Ausgestaltungen verstärkt im Dienst des Christusglaubens anzuwenden.

Von Galiläa nach Jerusalem
Zunächst war das Zentrum des öffentlichen Wirkens Jesu Galiläa. Matthäus berichtet, dass er zu Beginn seiner Predigttätigkeit Nazareth verließ und seinen Wohnsitz nach Kapharnaum am See Genezareth verlegte (4,13). Dort scheint er tatsächlich häufiger gelehrt zu haben. Dennoch war er grundsätzlich wohl Wanderprediger, der herumzog, um in Synagogen, unter freiem Himmel oder in Häusern viele Zuhörer ansprechen zu können. Adressaten waren alle Juden, Vornehme und Arme, Männer und Frauen, Fromme und Sünder, nicht aber Heiden; Jesus sah sich gesandt zu Israel, und er dokumentierte seinen Anspruch auf eine Reform Israels durch den Kreis der "Zwölf", die "ganz" Israel (die "zwölf Stämme") symbolisierten (erst nach seinem Tod wurden - neben anderen - die Zwölf zu "Aposteln", zu Missionaren).

Jesus gewann Jüngerkreise, die auch nach seinem Tod weiterbestanden, und fand wohl weitere zahlreiche Freunde in den Städten und Dörfern Galiläas. Wie weit er in der breiten Bevölkerung akzeptiert oder abgelehnt wurde, läßt sich nicht feststellen. Vielleicht reiste er, wie das Johannesevangelium nahe legt, mehrfach nach Jerusalem. Seine Wallfahrt zum Paschafest war aber vielleicht seine einzige, wie die Synoptiker darlegen, jedenfalls aber seine letzte. In Jerusalem fand er, nach mindestens ein-, wahrscheinlich eher zwei- bis zweieinhalbjährigem öffentlichem Wirken, den Tod.

Die Evangelien schildern die Reise so, als habe Jesus sie angetreten, um dort zu Tode zu kommen. Diese Sicht erscheint vom späteren Glauben an Tod und Auferstehung her verständlich, ist aber historisch wohl unwahrscheinlich.[26] Sicherlich muss man annehmen, dass Jesus wusste, in welche Gefahr er sich begab; er ging nicht blind in den Tod, ebenso wenig versuchte er zu fliehen, was doch wohl möglich gewesen wäre. Aber er strebte den Tod nicht an, und nichts in der Predigt Jesu deutet darauf hin, dass er durch sein Sterben die Menschen erlösen wollte. Immerhin aber mag die Tatsache, dass er das "Prophetenschicksal", also Verfolgung und Tod, riskierte, die Struktur seiner "Sache" deutlich werden lassen: Sie war nicht definiert durch den geschichtlichen Erfolg; Jesu persönliches Scheitern konnte ihre Gültigkeit nicht aufheben, womit der Inhalt dessen, was später metaphorisch als "Auferstehung" bezeichnet wurde, bei Jesus gegeben ist.

Der Tod Jesu
In Jerusalem trat Jesus öffentlich auf, meist vermutlich im Tempelbezirk. Hier spitzten sich die Konflikte zu, und es scheint, dass ihn Teile des jüdischen Establishments als Gefahr ansahen, wozu sicher auch schon der Ruf beigetragen hatte, der ihm von Galiläa vorauseilte. Zwar berichten die Evangelien viele Einzelheiten über die letzten Tage, über Prozeß und Tod Jesu, dennoch bleiben viele Fragen.
Zu hohen Festtagen hielt sich der römische Präfekt in Jerusalem auf. Deswegen wäre es ein Affront gewesen, wenn jüdische Instanzen Jesus verurteilt oder gar hingerichtet hätten - in diesem Fall mittels der jüdischen Todesstrafe, der Steinigung. Jesus wurde also vor Pontius Pilatus der Prozess gemacht, und dieser verurteilte ihn zur Geißelung[27] und zu der bei Römern verbreiteten Hinrichtungsart, zur Kreuzigung.[28] Der Grund kann für den Präfekten im Wesentlichen nur ein politischer gewesen sein, und die Inschrift am Kreuz, "König der Juden", mag - wenn sie nicht spätere Christologie ist - auf diesen Zusammenhang hinweisen. Pilatus befürchtete wohl Aufruhr und griff hart durch. Die in den Evangelien erkennbaren Entlastungsversuche für Pilatus - und die damit einhergehende Schuldzuweisung an "die Juden" - sind wohl darin begründet, dass die spätere Mission im Römischen Reich nicht durch eine allzu harte Beurteilung eines römischen Beamten belastet werden sollte.

Dennoch ist Jesus nicht einfach zu Tode gekommen, weil die Römer seine Absichten missverstanden hatten. Sicher ist, dass er von der jüdischen Führungsschicht, wahrscheinlich in Gethsemane[29], verhaftet und den Römern ausgeliefert wurde. Bei ihnen spielten natürlich religiöse Motive eine größere Rolle, obwohl sie im einzelnen nicht bekannt sind; vielleicht sah man die eigene religiös-politische Stellung durch Auftreten und Anspruch Jesu und durch seine Bewegung bedroht, vielleicht aber gab es auch Ängste, dass die Römer bei möglichen Unruhen hart durchgreifen könnten. Ob es eine förmliche Beratung vor dem Synhedrium oder einem anderen Organ gab, muss offen bleiben.[30]
Am Tag nach seiner Verhaftung wurde Jesus gefoltert und gekreuzigt. Von vielen Forschern wird der Todestag für Freitag, den 7. April 30, angenommen, andere sprechen nur vom Tod Jesu >um das Jahr 30<.[31]

Die "Sache Jesu" geht weiter
Damit war die Geschichte Jesu und seiner Bewegung nicht, wie erwartet, zu Ende. Schon nach wenigen Tagen kamen einige seiner Jünger zu dem Glauben, dass sein Tod nicht sinnlos gewesen sein konnte. 
Die Verzweiflung und die dumpfe Lähmung durch den Tod Jesu war bei den Jüngern also schon wenige Tage später beendet. Sie fingen an, sein Worte und - vor allen - ihn selbst zu verkünden. Seinen Tod verstanden sie als ein Opfer, und sie waren überzeugt, dass Jesus bei Gott lebt und seine Sache weitergeht, dass seine frohe Botschaft und er weiter zu verkünden seien. In apokalyptischer Sprache bekannten sie, dass er von Gott auferweckt sei.

Bald sammelten sich viele seiner früheren Jünger und verbreiteten seine Worte. Dabei verstanden sie sich zunächst - wie Jesus - als Reformer Israels, sie gingen in den Tempel[32] und hielten das "Gesetz" ein.

Bald aber kam es zu Konflikten mit der jüdischen Führung, weil die Jünger im Tempel oder in Synagogen predigten und Anhänger gewinnen konnten; sie wurden ausgeschlossen. Jetzt war das Christentum auf einen Weg gewiesen, der mit der Nachfolge Jesu und dem Bekenntnis zu seiner Heilsbedeutung im Keim schon grundgelegt war: mit der Zeit eine neue Religionsgemeinschaft zu werden. Jesus, seine Worte, sein Leben und Sterben traten an die Stelle von Gesetz und Tempel.

Jesus hatte sich zwar nur an seine Landsleute gewandt, hierbei aber die Motive der jüdischen Religion so verwendet, dass sie der Sache nach für jeden Menschen wichtig waren; Nichtrichten, Vergeben, Liebe, Solidarität usf. gehen alle an. So war es nur konsequent, dass sich bald auch die ersten Nichtjuden den Christengemeinden anschließen wollten, was dann auch recht früh - hier scheint Petrus eine Rolle gespielt zu haben (Apg 10) - akzeptiert wurde.

Jesus wurden bald Würdenamen zugeeignet, die seine Besonderheit ausdrücken sollten. In der jüdischen Überlieferung gab es viele Begriffe, die zur Deutung eines für die Jahwereligion wichtigen Predigers zur Verfügung standen. Obwohl Jesus einen hohen Anspruch auf Nachfolge vertrat, hatte er sich keinen von ihnen zugelegt (etwa: ich bin der oder jener). Erst in den späteren Christengemeinden gab man Jesus Hoheitstitel, die umschreiben sollten, wie er von ihnen interpretiert wurde. Judenchristen nannten Jesus ihren Messias (=Christus), den Sohn Davids, Menschensohn, auch schon Gottessohn (in dem Sinn, wie auch der jüdische König oder ganz Israel sich als Sohn Gottes auffassten); hellenistische Christen konnten mit den jüdischen Titeln nichts anfangen, sie nannten Jesus: Sohn Gottes (jetzt aber: in einem seinshaften Sinn), (göttlicher) Herr, Wort Gottes usf.

Schon vor Paulus[33], also in den ersten zehn bis 15 Jahren nach dem Tod Jesu, waren so die Weichen gestellt für die Entstehung der christlichen Kirche aus Juden und Heiden und für eine bisher zweitausendjährige und wohl auch für die Zukunft dynamische Geschichte des Christentums. Das junge Christentum breitete sich rasch in den Unterschichten, später auch unter Gebildeteren in den Städten rund um das Mittelmeer aus. Mit der Zeit wuchsen die zunächst kleinen Gemeinden, später konnte der neue Glaube auch auf dem flachen Land Fuß fassen. Mitte des 3. Jh.s war die Kirche eine Größe geworden, mit der sich der römische Staat auseinandersetzen musste.

Zur Zeit der "konstantinischen Wende" im frühen 4. Jh. dürfte nach heutigen Schätzungen rund ein Fünftel der damaligen Reichsbevölkerung zum Christentum gehört haben. Wegen der danach einsetzenden staatlichen Begünstigung der Kirche ließen sich jetzt immer mehr Menschen taufen, im späteren 4. Jh. wurde das Christentum Staatsreligion, und bald waren "alle" - wenigstens formell - zu Christen geworden. Der jüdische Wanderprediger hatte das Römische Reich gewonnen.


© imprimatur Oktober 2000
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[1] Milan Machove, Jesus für Atheisten,Stuttgart 11972, 253.254.
[2] Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 11906.
[3] Günther Bornkamm, Jesus von Nazareth (Urban-Bücher 19),Stuttgart 1956, 11.
[4] Es gibt eine ganz Reihe von - oft nur fragmentarisch überlieferten - apokryphen Evangelien. Erst 1946 wurde z.B. in Nag-Hammadi in Oberägypten eine ganze Bibliothek, darunter auch apokryphe Evangelien, entdeckt, die von gnostischen Christen verfaßt wurden. 
[5] Rudolf Bultmann, Jesus, Berlin 1926, 16.17.
[6] Der jüdische Schriftsteller Josephus Flavius schrieb ungefähr im Jahr 93 oder 94 n.Chr. in dem Buch "Jüdische Altertümer" vom Prozeß, der Verurteilung wegen Gesetzesübertretung und der Steinigung des Jakobus im Jahre 62 n.Chr. und erwähnt beiläufig, dass er ein "Bruder Jesu, des sogenannten Christus", war. Eine andere, wesentlich ausführlichere Stelle über Jesus ist offensichtlich von christlicher Hand später überarbeitet worden und in der vorliegenden Form nicht brauchbar. 
[7] Anspielungen auf Jesus in den umfangreichen Talmud-sammlungen, die eine über Jahrhunderte entstandene Grundschrift des pharisäischen Judentums bilden, sind in ihrer historischen Zuverlässigkeit oft fraglich. Immerhin bestätigen sie soviel, dass Jesus am Vorabend des Passahfestes "gehängt" wurde, weil er Zauberei getrieben und Israel verführt habe. 
[8] Tacitus berichtet in seinem Geschichtswerk, dass Kaiser Nero den Brand, bei dem große Teile Roms zerstört wurden, selbst angeordnet, und um seine Schuld zu vertuschen, ihn den "Christianern" in die Schuhe geschoben habe. "Der Begründer dieses Namens, Christus, war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden" (Annales 15, 44). 
[9] Wolfgang Trilling, Fragen zur Geschichtlichkeit Jesu, Düsseldorf 31969, 64. 
[10] Matthäus (Mt) und Lukas (Lk) legten ihren Evangelien das Markusevangelium (Mk) zugrunde. Daneben benutzten sie gemeinsam eine zweite große Quelle (Q), die man heute aus den Texten rekonstruiert, die beide über Mk hinaus gemeinsam haben. Diese Quelle bietet kaum Erzählerisches aus dem Leben Jesu, sondern beinahe ausschließlich Worte des Täufers oder, vor allem, Jesu; deswegen wird sie als auch Rede-, Spruch- oder (griechisch) Logienquelle bezeichnet. Diese Quelle ist sehr alt, von apokalyptischen Vorstellungen und einer frühen theologischen Entwicklungsstufe geprägt. In ihren Anfängen ist sie, als mündliche Überlieferung, wohl entstanden, als sich die noch junge Jesusbewegung - bald nach Ostern - von der jüdischen Mutterreligion trennte. Jetzt fielen "Gesetz" und "Tempel", die bisherigen Bezugspunkte für die eigene Identität, weg; an ihre Stelle traten Worte Jesu als die neue Weisung. Im Lauf der Zeit sind dann immer weitere Traditionen hinzugefügt worden. Lk fügte diese Stoffe in zwei "Einschaltungen", eine große und eine kleine, in die Abfolge des Mk-Evangeliums ein, Mt stellte aus ihr die fünf großen Reden Jesu - darunter die Bergpredigt - zusammen. Daneben benutzten sie jeder noch sogn. Sondergut (S), z.B. die Kindheitsgeschichten und die Erscheinungsberichte. 
[11] Nach demTod Jesu wurden seine Worte und Taten, soweit sie der Verkündigung des neuen Glaubens dienten, weitertradiert. Erst rund vierzig Jahre später aber, also etwa im Jahre 70, wurden von einem Judenchristen, der seit der ersten Hälfte des 2. Jh.s als Markus bezeichnet wird, die ihm zugänglichen uns unbekannte Autoren, die seit dem 2. Jh. als Matthäus und Lukas namhaft gemacht werden, den Markustext, indem sie zusätzliche Überlieferungen aufgeschrieben; hierbei bearbeitete er die Stoffe so, dass das Leben Jesu als "Frohe Botschaft" (Evangelium) erzählt wurde. Weitere zwanzig Jahre später ergänzten zwei andere Überlieferungsmaterialien hinzufügten und manches auch anders interpretierten. Weil sie sich aber weithin an dem Markusevangelium orientierten, erscheint das Leben Jesu bei allen dreien auf eine vergleichbare Weise; deswegen werden sie die drei "Synoptiker" genannt (von griech: Synopse=Zusammenschau). So gut wie unabhängig von ihnen und deswegen in Vielem abweichend schrieb, vielleicht wiederum zehn Jahre später, also um das Jahr 100, der vierte Evangelist, der seit dem 2.Jh. als Johannes überliefert ist. 
[12] Das Markusevangelium beginnt mit der Predigt des Johannes und der Taufe Jesu und endet mit dem leeren Grab (16,8); die folgenden Verse (16,9-20) mit Erscheinungsberichten des Auferstandenen sind - der "unechte Markusschluß" - im 2. Jh. angefügt worden. Matthäus und Lukas übernehmen diesen Rahmen, stellen aber vor die Täufererzählungen die sogn. Kindheitsgeschichten und fügen am Schluß Erscheinungsberichte hinzu. Letzteres macht auch Johannes, aber die Einleitung seines Evangeliums ist der sogn. Prolog ("Im Anfang war das Wort ..."). 
[13] Nach der heute in den Bibelwissenschaften vertretenen Mehrheitsmeinung sind auch die Erzählungen über die Zeugung Jesu aus dem Heiligen Geist als Bekenntnisse zu seiner wunderbaren Erwählung von Anfang an zu verstehen, nicht als biologische Hinweise. Jedenfalls hat Lukas keine Schwierigkeiten, einige Kapitel weiter Jesus als "Sohn Josefs" zu bezeichnen (Lk 4,22). Auch die nahe Verwandtschaft und Verbindung von Johannes dem Täufer und Jesus, wie sie im ersten Kapitel des Lukasevangeliums geschildert wird, ist wohl nicht historisch zu verstehen, sondern spiegelt vor allem die spätere religiöse Nähe dieser beiden Männer. Ähnlich dürften weitere Einzelheiten zu verstehen sein. 
[14] Palästina war im Jahre 64 v. Chr. von dem Feldherrrn Pompeius dem Machtbereich des Römischen Imperiums eingegliedert worden. Die jüdischen Verwaltungsbezirke beschränkte er auf Judäa, Samaria, Galiläa und Peräa. Herodes I. (37-4 v. Chr.), später der Große genannt, konnte mit Hilfe und unter der Oberherrschaft Roms zunächst Judäa, bald auch weitere Territorien in seine Gewalt bringen. Er regierte mit Hilfe von Söldnern wie ein hellenistischer Fürst und entfaltete eine rege Bautätigkeit. Von neurotischer Angst um seine Macht getrieben, ließ er zahlreiche Menschen, darunter auch (mit römischer Erlaubnis) einige seiner eigenen Kinder - wohl der historische Kern der Erzählung vom Kindermord in Bethlehem - umbringen. 
[15] Nach dem Tod des Herodes teilten seine drei Söhne Palästina unter sich auf. Herodes Antipas bekam Galiläa und Peräa und regierte noch bis 39 n.Chr.; Philippus erhielt die nördlichen Gebiete und Archelaus wurde Herr über Judäa, Samaria und Idumäa. Die Römer setzten ihn im Jahre 6 n.Chr. wegen seiner Mißwirtschaft ab und schickten einen Landpfleger an seiner Stelle, der nun die römische Herrschaft unmittelbar ausübte; die genannten Gebiete waren jetzt römische Provinz. In der späteren Lebenszeit Jesu war Pontius Pilatus - ein recht unduldsamer Mann - Statthalter und Herr in Judäa und Samaria, während in Galiläa noch Herodes Antipas von den Römern als König geduldet wurde. 
[16] Gaius Octavianus (*63 v.Chr., + 14 n. Chr.), dem Adoptivsohn Cäsars, wurde vom Römischen Senat der Titel "Augustus" verliehen; während seiner Regierungszeit wurde Jesu geboren. Unter seinem Nachfolger Tiberius (14-37 n. Chr.) lebte Jesus als junger Mann in Nazareth, trat als Wanderprediger auf und wurde hingerichtet. 
[17] Nur in der Kindheitsgeschichte des Lukasevangeliums (Kap. 2) findet sich die Erzählung, dass Maria ihren erstgeborenen Sohn in eine Krippe legte, weil sie in der Herberge in Bethlehem keinen Platz gefunden hatten, und von den Hirten auf dem Feld. Weil Lukas solche erbaulichen Szenen schildern konnte, gab man ihm im Mittelalter den Beinamen "der Maler". 
[18] Ganz sicher gehört in den Zusammenhang eines symbolischen Bekenntnisses zu Jesus als Christus die Schilderung einer Flucht der "Heiligen Familie" nach Ägypten bei Matthäus (2,13-18); der alttestamentliche Spruch "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn berufen" (Hos 11,1 = Mt 2,15) - damals auf das Volk Israel bezogen - erfüllte sich auf diese Weise in der Erzählung: Jesus ist der von Gott berufene "Sohn". Die Huldigung der drei Magier, d.h. Sterndeuter, aus dem Morgenland, das nur im Matthäusevangelium (Kap. 2) berichtet wird, soll den Neugeborenen als König auch der Heiden hervorheben. Dies entsprach der Jesusinterpretation der weitgehend heidenchristlichen Gemeinden, für die Matthäus sein Evangelium schrieb. In den orthodoxen Kirchen ist der 6. Januar, der "Dreikönigstag", das eigentliche Weihnachsfest (nur die Kirche Griechenlands feiert seit einigen Jahrzehnten auch am 25.Dezember). 
[19] Es ist ein alter Streit, ob Jesus nur der "erstgeborene", also älteste, oder der einzige Sohn seiner Eltern war. Als Jesus öffentlich predigte, lebten noch seine Mutter und einige Schwestern und namentlich genannte Brüder (vgl. Mk 6,3 = Mt 13,55; vgl. Mt 1,25); historisch muss wohl von diesen Aussagen ausgegangen werden. 
[20] Schon lange vor dieser Zeit hatten die Juden ihre Muttersprache Hebräisch aufgegeben, das nur noch als heilige Sprache der Schrift und der Psalmen benutzt und in den Gottesdiensten übersetzt und erklärt werden musste. Die damalige Umgangssprache in Palästina, auch die Jesu, war das Aramäische, eine verwandte semitische Sprache, die im Babylonischen Großreich gesprochen worden war (in einer späteren Entwicklungsstufe als syrisch bezeichnet). Der Name Jäsús (griech.) oder Jesus (latein.) geht auf den hebräischen Namen Joschuá oder Jehoschuá oder - in einer Nebenform - Jeschuá bzw. Jeschú ("der Herr rettet") zurück. Später wurde Jesus als Messias, griechisch Christus, bezeichnet; dieser Hoheitstitel wurde bald, teilweise schon bei Paulus, zu einem zweiten Eigennamen Jesu. 
[21] Der Synagogengottesdienst - ein Wortgottesdienst - hatte sich während des babylonischen Exils (6. Jh. v. Chr.) entwickelt; damals wohnten die Exilierten weit weg vom (zerstörten) Tempel, wo allein Tier- und Pflanzenopfer dargebracht werden durften. Während des Synagogengottesdienstes durfte jeder jüdische Mann nach vorne gehen, aus der Thorarolle vorlesen und den Text auslegen. Die Gemeinde antwortete mit Gebeten und Liedern (Psalmen). Von Jesus wissen wir, dass er von dem Recht, die Schrift in der Synagoge auszulegen, öfters Gebrauch machte, und auch die frühen christlichen Missionare ("Apostel") begannen ihre Mission meist mit einer Schriftlesung und Predigt in den Synagogen in der jüdischen Diaspora rund um das Mittelmeer. 
[22] Im Jahre 1947 entdeckte ein junger Beduine in einer Höhle nordwestlich des Toten Meeres die ersten in Tonkrügen aufbewahrten Schriftrollen, die sich bald als zweitausend Jahre alte Dokumente erwiesen. Mittlerweile sind ein Fülle weiterer Schriftrollen gefunden worden, die Texte aus beinahe dem gesamten Alten Testament wie auch aus dem Leben und der Theologie einer jüdischen Mönchsgemeinde wiedergeben. In der Nähe stieß man auf Grundmauern von Gebäuden, durch Grabungsarbeiten wurden die Überreste eines großen Klosterkomplexes sichtbar. Er bestand spätestens seit dem 1. Jh. v. Chr. bis um das Jahr 70 n. Chr. Damals versteckten die Mönche anscheinend ihre ganze Bibliothek in den nahegelegenen Höhlen. Kurz darauf wurde das Kloster zerstört. Die Bibliothek blieb bis in unsere Zeit unentdeckt.
Die männlichen Mitglieder der essenischen Qumranbewegung, von denen man bis zur Entdeckung des Klosters und seiner reichhaltigen Bibliothek nichts wusste, lebten gänzlich in der Erwartung des Endes, bei dessen Kommen ihrer Gemeinschaft eine wichtige Rolle zukommen sollte. Zurückgezogen von der Welt hielten sie strenge mönchische Regeln ein, um sich vorzubereiten:
"Jeder, der in diese Gemeinschaft eintritt, soll schwören, umzukehren zum Gesetz des Mose, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Er soll sich absondern von allen Männern, die Unrecht tun und den Zorn des Gerichtes herbeiführen" (1QS V 7-12).
Das Leben war streng, und alle Verfehlungen unterlagen einer harten Buße:
"Wer wissentlich etwas abstreitet, büßt sechs Monate.
Wer seinem Nächsten zu Unrecht etwas Böses nachsagte, büßt ein Jahr. 
Wer seinen Nächsten betrügt, büßt sechs Monate.
Wer über seinen Nächsten zu Unrecht zornig ist, büßt sechs Monate...
Wer in Torheit laut lacht, büßt dreißig Tage" ( 1QS VII 1-15).
[23] Schon in der frühen Königszeit richtete sich die Hoffnung des jüdischen Volkes auf eine Zukunft, in der alles besser und gerechter sein sollte als gegenwärtig. Weil damals alle Staaten monarchisch geleitet wurden, hoffte man auf einen Friedensfürst, einen gerechten König Israels aus dem Haus Davids; man ersehnte einen "Messias" (=Gesalbter=König). Während des Exils, als es keinen Anlaß mehr gab, noch auf bevorstehende Entwicklungen zu hoffen, bildete sich die Vorstellung aus, erst wenn dieser Äon vergangen sei, könne durch die Tat Gottes ein gänzlich neue, alles Bisherige überschreitende Heilszeit herbeigeführt werden. Auch deren Kommen wurde mit dem Auftreten eines Messias verknüpft, obwohl es keine jüdischen Könige mehr gab. Der Messias wurde jetzt zum Symbol der erhofften Zeitenwende. 
[24] Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin, New York 1996, 122.124. 
[25] Die Antike war wundergläubig, und so waren Wundererzählungen keine Seltenheit. Viele wußten von mirakelhaften Ereignissen, die sich z.B. um Kultzentren, aber auch um bestimmte Ärzte oder sonstige Wundertäter rankten. Meist wurde nach einem bestimmten Schema davon erzählt: Die Schwere der Krankheit und die vergeblichen Versuche, sie zu heilen, werden geschildert. Dann wird von den Manipulationen und Zauberformeln berichtet, die zur Wunderheilung führten. Schließlich äußern die Umstehenden ihr Erstaunen und ihre Bewunderung. Das Wunderschema ließ sich im Dienst des Christusbekenntnisses mit beeindruckenden Geschichten füllen, die unterschiedliche Gesichtspunkte ausdrücken sollten, z.B.: Jesus macht Menschen ("Blinde") sehend, er macht Menschen ("Stumme") sprachfähig, er eröffnet isolierten Menschen ("auf Grund ihres Aussatzes Ausgestoßenen") Gemeinschaft usf. 
[26] Die frühen Christengemeinden schufen Formeln, mit denen sie - vor allem bei den Tauffeiern - ihren Glauben an Jesus bekannten: er hat für uns gelitten, ist gestorben und begraben worden und am dritten Tag wieder auferstanden. Weil sie diese Aspekte - rückblickend - bei Jesus grundgelegt sahen, legten sie die Formeln schon ihm in den Mund, indem sie sie ins Futur übertrugen: Der Menschensohn wird (oder muss) leiden, sterben, begraben werden und auferstehen. Auf diese Weise erscheinen die Bekenntnisse wie Leidensankündigungen, die Jesus selbst auszusprechen scheint, obwohl sie in Wirklichkeit nur den Glauben der Gemeinden wiedergeben. 
[27] Die Geißelung war sowohl bei den Juden (höchstens 40 Stockschläge) als auch bei den Römern verbreitet. Letztere setzten sie ein, um Geständnisse zu erzwingen, zu bestrafen oder auch eine Hinrichtung einzuleiten. Weil es bei ihnen keine Beschränkung der Stock-, Ruten- oder Geißelschläge gab, starben nicht wenige der Betroffenen schon während dieser Tortur. 
[28] Die Römer hatten die Kreuzigung, nach Cicero die grausamste Hinrichtungsart, von den von ihnen besiegten Karthagern übernommen. Sie war für Schwerverbrecher vorgesehen und durfte nicht an römischen Bürgern vollzogen werden. An der Hinrichtungstätte standen meist schon in die Erde gerammte senkrechte Pfähle. Der Delinquent musste ein Querholz selbst dorthin tragen; er wurde entkleidet, und seine Arme wurden an den Balken festgebunden oder -genagelt. Dann wurde das Querholz hochgezogen und entweder an der Spitze (T-Form) oder etwas unterhalb (Kreuzesform) des senkrechten Pfahls befestigt. Der Tod trat oft erst nach langer Zeit, durch Ersticken oder Kreislaufversagen, ein. 
[29] Während des Paschafestes sollten Pilger außerhalb der Stadt wohnen. Insofern spricht viel dafür, dass Jesus abends nicht in der Stadt war und im Ölgarten verhaftet wurde. Für seine Gegner hatte dies den Vorteil, dass die Verhaftung kein Aufsehen erregte. 
[30] "Jesus wurde hingerichtet, weil der Jerusalemer Magistrat oder ein Teil befürchtete, er könnte Unruhen auslösen, denen die Römer nicht zusehen würden. Er starb nicht, weil sein Verhältnis zur Tora und zu Israel so war, dass thoratreue Juden keine andere Wahl hatten. Er starb auch nicht durch >>die<< Juden, selbst wenn es stimmt, dass eine Menge »Kreuzige« schrie, als er vor Pilatus stand. Ohne diese Situation, in die Jesus sich freilich sehenden Auges begeben hatte, wäre er vielleicht unbehelligt geblieben. Da sie bestand, war das Vorgehen der jüdischen Seite vertretbar, wenn auch nicht unvermeidlich. Pilatus urteilte hart, aber im Rahmen seiner Befugnisse. Todesstrafe war sogar als vorbeugende Ordnungsmaßnahme zulässig. Jesus ist keine Gerechtigkeit widerfahren, aber ein Justizmord war es auch nicht" (Christoph Burchard, II. Jesus von Nazareth, in: Jürgen Becker u.a., Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1987, 54.55). 
[31]Umstritten ist die Platzierung des Todestages Jesu im jüdischen Kalender: Übereinstimmend war es bei den Synoptikern und Johannes ein Freitag, bei den ersteren aber der 15. Nisan, das Paschafest selbst, bei Johannes der 14. Nisan, der Vorabend des Pascha. Entsprechend ist bei Johannes das "letzte Abendmahl" ein feierliches Abschiedsessen, während Jesus als Paschalamm stirbt, bei den Synoptikern war das letzte Mahl ein Paschamahl. Was historisch zutrifft, ist schwer zu entscheiden. Einiges scheint für die Datierung des Johannes zu sprechen, weil es zumindest ungewöhnlich gewesen wäre, dass die Römer eine Kreuzigung am höchsten jüdischen Fest durchführen. 
[32] Der von Salomo errichtete erste Tempelbau in Jerusalem war zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. von den Babyloniern zerstört worden. Der nach dem Exil seit dem 5. Jh. v.Chr. allmählich durch die Anstrengungen des ganzen Volkes neu aufgebaute zweite Tempel war recht bescheiden ausgefallen. Herodes I. ließ die Anlage ab 20 v. Chr. von Grund auf erneuern; die Pracht und Schönheit des salomonischen Tempels sollte wiederhergestellt werden. Zehntausende von Bauarbeitern waren hier beschäftigt, und auch nach seiner baldigen Fertigstellung wurde - noch über die Zeit Jesu hinaus - in einigen Bereichen weitergebaut. 
[33] Paulus, nur wenig jünger als Jesus, wurde in Tarsus, damals eine hellenistische Hafenstadt in Kilikien (im Südosten der heutigen Türkei) als Jude und zugleich römischer Bürger geboren. Er wurde zu einem frommen Juden erzogen, war aber auch von der hellenistischen Kultur seiner Umgebung geprägt; er erlernte das Handwerk eines Zeltmachers. 
Zunächst verfolgte er die Christen, dann aber wandte er sich selbst dem neuen Glauben zu (vgl. Gal 1) und widmete sein ganzes weiteres Leben seiner Verkündigung und Ausbreitung. Vor allem wollte er ihn der Welt des Römischen Reichs vermitteln, die seit der Jugendzeit seinen Horizont bestimmte; er wurde zum Heidenmissionar (vgl. Gal 2, 2-10).
Bei seinen Missionsreisen gründete er zahlreiche Gemeinden in Kleinasien und Griechenland; er hatte sogar vor, nach Spanien, also in den äußersten Westen, zu gehen. Aber er wurde vorher verhaftet, appellierte als römischer Bürger an Rom und wurde dorthin gebracht. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt, wahrscheinlich wurde er in Rom hingerichtet.
Wichtig ist er für das Christentum bis heute wegen seiner Briefe. In ihnen sind die christlichen Anliegen auf eine Weise formuliert, die auch außerhalb der jüdischen Welt verstanden werden konnte. Bis heute befördern sie eine universale Ausrichtung des Christentums.

 


 

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