Jesus von Nazareth

Quellen
Das Neue Testament ist die einzige bedeutsame historische Quelle über das Leben Jesu. 
Außer in den Synoptikern ist auch im Johannesevangelium und bei Paulus (z.B..Kor.11,23-25; 5,3ff) einiges über den historischen Jesus zu erfahren. 

Außerhalb der Bibel gibt es flüchtige Nachrichten im jüdischen und griechisch-römischen Schrifttum (bei Josephus, Tacitus, Plinius dem Jüngeren, Sueton, Claudius). Die Synoptiker berichten lediglich über den letzten Lebensabschnitt Jesu. Die Niederschrift der synoptischen Evangelien erfolgte in einem zeitlichen Abstand von wahrscheinlich 40 bis 70 Jahren zu den dargestellten Ereignissen. Einzelne Worte Jesu und Geschichten über ihn wurden vor der schriftlichen Fixierung mündlich überliefert. Aus der Zeit vor Jesu öffentlichem Auftreten sind nur Einzelheiten bekannt, und selbst über die kurze Phase seines Wirkens ist wenig Genaues auszumachen.

Leben
Jesus wurde in Palästina geboren. Ungewiss ist das Jahr, unbekannt der Ort seiner Geburt. (Die Legenden Mat. 2,1-12 und Lk. 2,1-20 geben Bethlehem als Geburtsort an.) Jesus wuchs in Galiläa, wahrscheinlich in Nazareth (Mat. 2,23), in einer armen jüdischen Familie auf, die als «davidisch» («aus dem Geschlecht Davids», Rom. 1,3) galt. Von Joseph, seinem Vater, hört man fast nichts. Er war wohl Zimmermann (Mat. 13,55), und vielleicht übte der Sohn denselben Beruf aus (Mk. 6,3). Seine Mutter hieß Maria, (Marjam), seine Brüder Jakobus, Joses, Judas und Simon. Anzahl und Namen seiner Schwestern werden verschwiegen. (Mk.6,3)

Jesus war, wie seine Familienangehörigen, den Anschauungen und den Sitten nach, Jude; er kannte das Alte Testament und war theologisch gebildet. Seine Sprache war aramäisch. Vor seinem öffentlichen Auftreten wurde er von Johannes dem Täufer getauft. (Mk. 1,9) Er zog als Wanderprediger umher. In Synagogen predigte er am Sabbat. Dabei wendete er sich besonders an die Armen (Lk. 6,20) und an religiöse und soziale Außenseiter («Zöllner und Sünder»). Er soll Dämonen ausgetrieben, Kranke geheilt und Wunder vollbracht haben.

Obgleich er arm war, lebte er keineswegs asketisch. (Mat. 11,18f) Eine Schar von Schülern begleitete ihn auf seiner Wanderschaft. Unter ihnen tat sich Petrus hervor. Der Kreis der zwölf Jünger, eine nachträgliche Stilisierung, deutet auf die Hoffnung hin, daß das Gottesvolk Israel mit seinen zwölf Stämmen wiederhergestellt werde. Nach Ostern leiteten die Jünger als Apostel die Gemeinde in Jerusalem. Das öffentliche Auftreten Jesu dauerte nur kurz, nach Johannes wenige Jahre, nach den Synoptikern ein Jahr. Dann wanderte Jesus von Galiläa nach Jerusalem. Dort versammelte sich, wie es das Gesetz bestimmte, ganz Israel zum Passahfest (israelitisches Fest zur Darbringung der tierischen Erstgeburten und zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten). Wahrscheinlich wollte sich Jesus an das ganze Volk wenden. Die (jüdischen und römischen) Behörden aber kamen dem zuvor und machten ihm den Prozess. (Jerusalem gehörte zur römischen Provinz Judäa.) Die Juden befürchteten, dass ein Auftreten Jesu politische Folgen haben könnte. (Mk.11,1 ff) Der römische Präfekt Pontius Pilatus verurteilte ihn wegen Aufruhrs zur Kreuzigung. Das Urteil wurde sogleich vollstreckt. Nach der Kreuzigung kam es zu einer Reihe von Jesusvisionen.Petrus hatte die erste, Paulus die letzte, die zu seiner Bekehrung führte. (1.Kor. 15,3ff; Lk. 24,34) Aus diesen Visionen schlössen die Betroffenen, dass Jesus von Gott auferweckt worden sei.

Verkündigung
Im Zentrum der Botschaft Jesu steht der Hinweis, dass die «Gottesherrschaft», das «Reich Gottes», unmittelbar bevorstehe. «Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um.» (Mk. 1,14f) Die gegenwärtige Welt wird untergehen, Gott wird Gericht halten und eine neue Welt schaffen. Die eschatologische Überzeugung Jesu vom bald hereinbrechenden Weltende (Lk. 17,24 ff) ist mit der jüdisch-apokalyptischen Enderwartung seiner Zeit verwandt. Das Gottesreich, für das Jesus wirbt, bringt «Heil» für alle. Dieses Heil gilt vor allem den Hungrigen (Lk. 6,20-23), Sündern (Mk. 2,5) und Kranken. Da Gott nahe ist, ruft Jesus die Menschen zur Umkehr auf. Er radikalisiert das Gesetz. «Liebet eure Feinde!» (Lk. 6,37ff; 10,30-37)
Die Adressaten Jesu waren die Angehörigen der armen, ungebildeten Masse. Sie wurden zum Träger seiner messianisch-revolutionären Bewegung. 

Die Masse des armen Volkes von Jerusalem und die Kleinbauern des Landes, die durch wachsenden politischen und wirtschaftlichen Druck und durch gesellschaftliche Verfemung und Verachtung gebeutelt waren, erhofften ungeduldig eine radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse; sie erwarteten den Anbruch einer glücklicheren Zeit, in der sie sich an den Herrschenden des jüdischen und des römischen Volkes würden rächen können. Die Epoche war gekennzeichnet von Rebellionen und Aufständen, von apokalyptischen und phantastischen Schwärmereien, von politisch-revolutionären und religiösen Erwartungen. Die Verkündigung Jesu versprach den Armen zwar kein wirtschaftliches oder sozialreformerisches Programm, aber eine glückliche Zukunft, in der die Unterprivilegierten bevorrechtigt, die Hungernden satt und die Ausgebeuteten zu Herrschern würden. Die Inhalte dieser Hoffnung waren keineswegs vergeistigt oder jenseitig, sondern handfest und real. «Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr hungert, denn ihr werdet satt werden.» (Lk. 6,20ff) Das Neue Testament bedenkt Jesus mit einer ganzen Reihe exklusiver Hoheitstitel: Messias /Christus, Sohn Gottes, Menschensohn, Davidssohn, Herr (Kyrios). Jesus selbst hat wohl keines dieser Prädikate auf sich selbst angewendet. Überhaupt gehen viele neutestamentliche Aussagen aufs Konto der «nachösterlichen» Gemeinde, und deren Anschauungen wurden Jesus kurzerhand in den Mund gelegt. Diese «Fälschungen», durchaus im Stil der Zeit, verdecken die Tatsache, daß Jesus nirgends sich selbst zum Teil seiner Botschaft machte. Erst die Gemeinde seiner Anhänger hat die Person Jesu mitten ins «Evangelium» hineingestellt, als habe er von seiner eigenen Bedeutung für das Heil der Menschen gesprochen.

Das Problem des «historischen Jesus»
Die in den synoptischen Evangelien dargelegte Botschaft Jesu ist größtenteils nicht authentisch. Sie drückt den Glauben seiner Jünger aus, dass Jesus der auferstandene und erhöhte Herr sei. Echte Überlieferung von Jesus gibt es nur eingebettet in die Predigt des Urchristentums. Der nachösterliche Christus hat das Bild des irdischen Jesus fast völlig aufgesogen. Die Vergangenheit spielt kaum mehr eine Rolle angesichts der überragenden gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung des verkündigten Christus. Die neutestamentlichen Schriftsteller drücken dies freilich nie offen aus. Sie behaupten vielmehr, dass der «biblische Christus des Glaubens» mit dem «irdischen Jesus» eins sei. Mit Hilfe authentischer und legendärer Tradition erwecken sie in den Evangelien noch einmal das Bild des Jesus von Nazareth und schreiben ihm all das zu, was er ihnen inzwischen bedeutet: Er ist zum «Erlöser», «Schöpfungsmittler», «Präexistenten» geworden. So entfalten sie ihre Christologie mit dem Stoff der Vergangenheit. Der Leser des Neuen Testaments muss sich klar machen, dass die Jesus-Erzählungen von der Hoffnung seiner Anhänger, von nachösterlichem Enthusiasmus (Begeisterung) und Mythologie geprägt sind. Das weit verbreitete mythische Schema von der Erniedrigung und der anschließenden Erhöhung eines Erlösergottes machte sich am Geschick des Jesus von Nazareth fest.  Die Enttäuschung der Jünger über den Elendstod Jesu am Kreuz und über das Ausbleiben des Gottesreiches endete nicht in Resignation, sondern in Protest. Das Kreuz wurde zum Siegeszeichen. Der am Kreuz Gescheiterte galt als der wunderbar Erhöhte und Gegenwärtige. Der Blickwinkel vom Kreuz und von Ostern her verfälschte die Jesusüberlieferung. In der Rückschau schien es, als habe schon der irdische Jesus Züge des himmlischen Herrn getragen. Dem Mann aus Nazareth sprach man im nachhinein ein messianisches Selbstbewusstsein zu. Schon zu Lebzeiten habe er gewusst, dass er um des Heils der Menschen willen sterben und auferstehen werde. Es scheint also, als gehe das Christentum nicht auf Jesus, sondern auf einen aus Verzweiflung und Protest geborenen Glauben seiner Anhänger, einer eschatologischen Sekte innerhalb des Judentums, zurück. Durch diese exegetische Erkenntnis fühlte sich die moderne Theologie herausgefordert. In der Nachfolge S. Kierkegaards (1813-1855) und Martin Kählers (1835-1912) erklärte Rudolf Bultmann (1884-1976), wir wüssten über das historische Leben Jesu tatsächlich so gut wie nichts. Das brauchten wir aber auch nicht; denn dem Glauben reiche die bloße Tatsache, dass Jesus gelebt habe. Für das «Kerygma», die «Verkündigung» von Jesus als dem Messias, reiche das «Dass des Gekommenseins Jesu» und das Kreuz als das entscheidende Ereignis aus. Das «Was und Wie seines Lebens» sei demgegenüber bedeutungslos. Mit dieser Erklärung Bultmanns schien alles Historische nebensächlich geworden zu sein. Christus nahm die Stelle des Jesus von Nazareth ein: Jesus ist sozusagen «ins Kerygma auferstanden». Folglich gibt es auch keinen Glauben an Jesus Christus, der nicht gleichzeitig Glaube an die Kirche als Trägerin des Kerygmas ist. Damit war die Bedeutung der Kirche enorm aufgewertet und jeglicher Kritik kirchlicher Tradition ein Riegel vorgeschoben. Die Schüler Bultmanns (unter ihnen Ebeling, Fuchs, Käsemann) wollten sich mit der Meinung ihres Lehrers nicht abfinden. Sie stellten erneut die Frage nach der Bedeutung des «irdischen Jesus» für das Kerygma der Gemeinde. Den Kern des Kerygmas glaubten sie schon in Wort und Tat des historischen Jesus aufspüren zu können.

J. Jeremias machte sich auf die Suche nach den unter den Gemeindebildungen verborgenen echten Jesusaussprüchen. Damit sollte der historische Jesus aus der kirchlich-dogmatischen Übermalung befreit werden, aber nicht nur, um den Ursprung des Christentums bei ihm, sondern gerade um die vermeintliche Einheit dieses Ursprungs mit der kirchlichen Verkündigung zu beweisen. Entgegen der Skepsis Bultmanns hat sich herausgestellt, dass bei Anwendung wissenschaftlicher Methoden ein Zugang zum historischen Jesus, wenn auch innerhalb enger Grenzen, tatsächlich möglich ist. Kriterium für die Echtheit eines Jesuswortes ist, dass es weder als aus dem Judentum noch als aus dem Urchristentum stammend erklärt werden kann. Neutestamentliche Jesusüberlieferung gilt so lange als unecht, bis ihre Echtheit bewiesen ist. Daher finden sich wenig gesicherte authentische Äußerungen Jesu, aber noch viel weniger historisch zuverlässige Aussagen über sein Geschick.

Tiefenpsychologische und analytische Untersuchungen zum Beispiel über «Jesus, den Mann» (Hanna Wolff) entdeckten den «integrierten Mann» aus Nazareth, dessen «differenziertes Gefühl» angeblich als beispielhaft gelten kann. Jesus sei spontan, sicher, differenzierend, nicht infantil, schöpferisch und «kosmisch beteiligt», kurzum, er stelle heiles Menschentum in charakteristischer Ausformung dar. So dient der historische Jesus als Modellfall für diejenigen Werte und Eigenschaften, die heute als wünschenswert erscheinen. Jesus ist Beispiel, Lehrer und Vorbild, der die auf ihn übertragenen Werte angeblich selbst gelebt hat und deshalb möglich macht, dass man sie heute wieder lebt. Diese Sichtweise begründet eine «freie Religiosität» in Bindung an Jesu Person bei kritischer und distanzierter Haltung gegenüber der Kirche.

Bei der Suche nach dem historischen Jesus beginnen andere Exegeten (z. B. A. Mayer) mit der Analyse solcher Äußerungen Jesu, die nach wissenschaftlicher Untersuchung als echt gelten können: Jesu Aussprüche sind kurz und prägnant. «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.» «Wer sucht, findet.» «Sorgt euch nicht um euer Leben.»

Jesus kommt mit einem geringen Wortschatz aus. Sein Satzbau verrät, dass er aus der Unterschicht kommt. Religiöse Kernbegriffe der Oberschicht wie «Vorsehung» oder «Schicksal», «Gnade», «Predigt» oder «Kirche» sucht man bei ihm vergeblich. Das abstrakte Denken der Oberschicht ist ihm fremd. Aller Spekulation um seine Person schiebt er einen Riegel vor und antwortet auf die Frage, wer er sei: «Ich bin es, der mit dir redet.» Kennzeichnend sind seine Offenheit («Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird»), sein Eintreten für soziale Gerechtigkeit («Wer arbeitet, hat ein Recht auf Lohn») und die Problematisierung von Besitz («Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz»). Er warnt vor übertriebener Sorge («Jeder Tag hat genug eigene Plage»), lebt statt dessen kurzfristig, von einem Tag zum ändern. Daher seine Bitte um das «tägliche Brot». Mit der Enthaltsamkeit seiner späteren Nachfolger hat er nichts im Sinn. Die feine Gesellschaft schimpft ihn deshalb auch «Fresser und Weinsäufer».

Zu seiner Elendsgeburt passt sein Elendstod. Er bleibt sein Leben lang der Ungerechtigkeit ausgeliefert. Schon die Evangelienschreiber versuchten Jesus zu «entproletarisieren». Lukas kehrt die ferne königliche Abkunft des Vaters hervor. Die Mutter wird zur Jungfrau. Die Kirche behauptet später, Jesus sei ohne irdischen Vater empfangen worden; sie dogmatisiert die Jungfrauengeburt. Die Geschwister Jesu werden in nahe Verwandte umgedeutet. Schon im Judenchristentum und in der hellenistischen Gemeinde verblasst die Erinnerung an die Figur Jesu, und das Neue Testament macht aus der historischen eine mythische Person. Schließlich wird aus dem proletarischen Jesus ein aristokratischer Jesus Christus. 
 

 (nach: Jugendlexikon Religion)

 
 
 
 
 

 



 
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