Kurze literarische Texte zur Berpredigt
 

Jürgen Rennen

Aus dem Gedächtnisprotokoll eines zeitgenössischen Beobachters, die sogenannte Bergpredigt und ihre „Seligpreisungen" betreffend

. . . Als der von mir Observierte das Volk sah, erklomm er eine von allen Seiten gut einsehbare Anhöhe und begann von dort aus die Menge aufzuwiegeln.
Mit meinen eigenen Ohren hörte ich folgendes: „Verflucht sind die Reichen und Hochmütigen! Verflucht sind jene, die nicht wissen, was Leid ist! Verflucht sind die Gewalttätigen! Verflucht sind jene, die nicht mehr hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit! Verflucht sind die Erbarmungslosen! Verflucht sind die Gerissenen! Verflucht sind die Kriegs willigen und die Kriegsvorbereiter! Verflucht sind alle die, die meine Leute, denen es letzten Endes ja nur um die Gerechtigkeit zu tun ist, verfolgen. . ."

Nach diesen Verwünschungen erging sich der Observierte in mehr oder minder geschickt drapierten Drohungen, alle darauf abzielend, die gegenwärtige Ordnung umzustoßen. Die Versammlung folgte der mehr als einstündigen Hetzrede mit Zurückhaltung. Erst gegen Schluss siegte das gesunde Volksempfinden. „Das Volk" - ich zitiere aus dem in Abschrift beigefügten Protokoll des Matthäus - „entsetzte sich über seine Lehre..."
 

(Aus: Die Bergpredigt, biblische Texte verfremdet)

„Anti-Bergpredigt"

Zu bedauern sind die geistlich Armen,
denn ihnen fehlt eine unerschütterliche Basis.
Zu bedauern sind die Trauernden,
denn man wird sich von ihnen zurückziehen.
Zu bedauern sind die Sanftmütigen,
denn man wird ihnen das Fell über die Ohren ziehen.
Zu bedauern sind die Gerechtigkeitssucher, denn sie werden ihr blaues Wunder erleben.
Zu bedauern sind die Barmherzigen, denn: Undank ist der Welt Lohn.
Zu bedauern sind, die reinen Herzens sind,
denn man wird sie nach allen Regeln der Kunst ausnutzen.
Zu bedauern sind die Friedensstifter,
denn sie werden zwischen den Fronten zerrieben werden.

(Aus: Unterrichtsmodelle Fach Religion 8)
Horst Nitschke
 
 

Wo das mal passiert

dass sich die Starken davonstehlen müssen,
dass den Sicheren, denen man niemals was nachsagen kann,
dass den niemals Zweifelnden einmal die Rechnung nicht aufgeht,
dass den strahlenden Helden das Lachen im Halse stecken bleibt,
dass sich der Große geirrt hat, der Vater dem Kind sagt: Vergib !,
dass auch die Frau das Recht hat, nein zu sagen und stärker zu sein,
dass, der wochenlang stirbt, endlich sterben darf,
dass Liebe sein darf, auch wenn sie kein Kind will,
dass wieder Liebe geschieht, wo Untreue war,
dass der Rentner mal mehr hat, als ihm von Rechts wegen zusteht,
dass einer drauf pfeift, wie viel Leistung er einmal "erbracht" hat,
dass einer gelegentlich faulenzt und seine Pflicht nicht erfüllt,
dass einer zum Umfallen schuftet, aber nicht, weil er muss,
dass ein Lehrer den Schüler gegen die Regel durchkommen lässt,
dass der Sitzengebliebene fröhlich nach Hause geht,
dass einer sagt, was er denkt, und man schmeißt ihn nicht raus,
und sperrt ihn nicht ein,
dass einer was Neues erkennt und das Neue auch macht,
dass einer mal gegen was anstinkt, obwohl's keinen Zweck hat...
dass der Alltag nicht grau ist, im Schnee blühn die Rosen.
Unglaublich wär's, aber warum nicht probieren
und merken: Da wiederholt es sich ja, 
was damals bei Jesus passierte.
 
 
 
 
 


Kurt Marti
 

jesus
mit einer schar von freunden (freundinnen auch)
durch galiläas dörfer und städte ziehend
hat er kranke geheilt und geschichten erzählt 
von der weltleidenschaft des ewigen gottes

privilegien der klasse der bildung galten ihm nichts 
zu seinem umgang zählten tagelöhner und zöllner 
wo mangel sich zeigte an nahrung oder getränk 
teilte er fische brot und wein aus für viele

die gewalt von gewalthabern verachtete er 
gewaltlosen hat er die erde versprochen 
sein thema: die zukunft gottes auf erden 
das ende von menschenmacht über menschen

in einer patriarchalischen welt blieb er 
der sohn und ein anwalt unmündiger frauen und kinder 
wollten galiläer ihn gar zum könig erheben? er aber 
ging hinauf nach jerusalem: direkt seinen gegnern ins garn

auf einem jungesel kam er geritten - kleinleute-messias:
die finger einer halbweltdame vollzogen die salbung an ihm ... 
bald verwirrt bald euphorisch folgten ihm die freunde die jünger 
um bei seiner verhaftung ratlos unterzutauchen ins dunkel

über sein schweigen hin rollte der schnelle prozess
ein afrikaner schleppte für ihn den balken zum richtplatz hinaus 
stundenlang hing er am kreuz: folter mit tödlichem ausgang – 
drei tage später die nicht zu erwartende wendung

anstatt sich verstummt zu verziehen ins bessere jenseits 
brach er von neuem auf in das grausame diesseits
zum langen marsch durch die viellabyrinthe
der völker der kirchen und unserer unheilsgeschichte

oft wandelt uns jetzt die furcht an er könnte 
sich lang schon verirrt und verlaufen haben 
entmutigt verschollen für immer vielleicht - oder bricht er 
noch einmal (wie einst an ostern) den bann?

und also erzählen wir weiter von ihm 
die geschichten seiner rebellischen liebe 
die uns aufwecken vom täglichen tod – 
und vor uns bleibt: was möglich wär' noch.
 


Die verrückten Ideen des Jesus von Nazareth
Andreas, ein junger Jude aus Galiläa, lebt zur Zeit Jesu. Als er zufällig in eine Demonstration gegen Pilatus gerät, kann er sich nur retten, indem er sich bereit erklärt, an ihn Informationen über bestimmte religiöse Bewegungen zu liefern. Er soll feststellen, ob diese zu den Rebellen gehören, die den politischen Umsturz herbeiführen wollen. Der Auftrag gilt zunächst den Essenern, einer Sekte am Toten Meer, zu denen auch Johannes der Täufer gehört. Schließlich soll er herausfinden, »oh dieser Jesus ein Sicherheitsrisiko für den Staat ist und ob er Verbindung zu den Widerstandskämpfern hat«.
So gerät er in den »Schatten des Galiläers«, der ihn nicht mehr loslassen wird und ihn schließlich zu einem Anhänger dieses Jesus macht, dem er jedoch nie persönlich begegnet. Bei seinen Nachforschungen fällt er in die Hände der Zeloten, einer religiösen Widerstandsgruppe. Dort trifft er Barabbas, seinen Jugendfreund. Es kommt zu folgendem Gespräch:
 

Wieder schwiegen wir eine Weile. Dann sagte Barabbas: »Vor kurzem ist jemand von uns abgehauen. Er redete wie du. Ich war mit ihm befreundet.« »Was macht er jetzt?«
»Er zieht hinter einem merkwürdigen Propheten her, den er einmal kennen gelernt hat, als er für uns im galiläischen See Fische gefangen hat.« »Sag mal, heißt dieser Prophet Jesus?« »Du kennst ihn?«
»Ich habe ihn nie gesehen. Aber ich habe von ihm gehört! Ich dachte, er sei selbst ein Zelot. Was er über die Reichen sagt, klingt fast, als hättest du es formuliert.« »Andreas, du irrst. Dieser Jesus ist ein Spinner! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so verrückte Ideen hatte.«
»Aber sagt er nicht genauso wie ihr, dass eine große Wende kommt? Dass Gott das Unrecht nicht länger mit ansehen wird? Daß seine Herrschaft endlich kommt?« »Aber da ist ei n großer Unterschied: Auch wir wollen, dass Gott alleine herrscht und nicht die Römer, die unser Land unterdrücken. Aber wir sind überzeugt, dass Gott nur denen hilft, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Er hilft nur denen, die zum Aufstand und zur Gewalt gegen die Feinde bereit sind. Weißt du aber, was dieser Jesus sagt? Simon hat mir eines seiner Gleichnisse erzählt:
Die Gottesherrschaft ist wie ein Mensch, der Samen auf die Erde streut, und er schläft und steht auf, nachts und tags, und der Same wächst und wird groß, er selbst weiß nicht wie. Von selbst trägt die Erde Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht es zulässt, sendet er die Sichel, denn die Ernte ist da!
So harmlos stellt er sich das vor: Von selbst komme die Gottesherrschaft. So sanft und leise wie die Pflanzen aus dem Boden. Ja, manchmal spricht er in rätselhaften Worten von ihr, als sei sie schon da, obwohl doch jedermann sieht, dass die Römer noch über unser Land herrschen! Jeder sieht, dass sie nicht da ist. Er ist ein Spinner. Und Simon auch!« »Wer?«
»Simon ist mein Freund, der uns verlassen hat. Unter den Anhängern Jesu wird er >Simon der Zelot« genannt. Simon hat Jesus einmal gefragt, ob man sich denn gegen Unrecht nicht wehren müsse. Weißt du, was er geantwortet hat? Er sagte:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist:
Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Ich aber sage euch:
Widersteht nicht dem Bösen.
Sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt,
dem halte auch die andere hin.
Und dem, der dir vor Gericht das Hemd nehmen will,
dem laß auch den Mantel,
und wer dich zu einer Meile Dienstleistung erpresst,
mit dem geh zwei!

Andreas, wer so was sagt, der spinnt. Wir sagen: Wenn dich jemand schlägt, schlag zurück! Wenn dir jemand das Hemd nimmt, zünd ihm das Haus an! Wenn dich jemand erpresst, entführ ihm seine Kinder und erpresse ihn! Nur so kann das Unrecht eingedämmt werden!« »Aber Simon, der Zelot, findet diese ausgefallenen Ansichten, die Jesus verbreitet, gut?« >»Ausgefallen< ist ei n schwacher Ausdruck! Man kann sich zur Not vorstellen, dass man von einem Freund lieber Unrecht leidet als ihm Unrecht tut- aber gegenüber Feinden? Ist es nicht unsere Pflicht, Freunden zu helfen und Feinden zu schaden? Als Simon ihn danach fragte, antwortete Jesus:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist:
Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind!
Ich aber sage euch:
Liebt eure Feinde
und bittet für eure Verfolger,
damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet,
denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute,
und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Wer kann sich schon erlauben, so großzügig gegenüber seinen Feinden zu sein? Das kann nur, wer stark und unabhängig genug ist, dass ihm seine Feinde nichts anhaben können. Das können nur die großen Sieger, die Könige und Kaiser. Aber dieser Jesus zieht durch unser unterdrücktes Land und will den kleinen Leuten eine Haltung beibringen, die sich nur eine schmale Oberschicht als Luxus gelegentlich erlauben kann, die aber lahmt, was allein Veränderung bringen kann: die Solidarität der Unterdrückten gegen ihre Peiniger und ihren Hass gegen die Großen!

Ihr wisst,
dass die sogenannten Herrscher der Völker sie unterjochen
und ihre Großen sie unterdrücken.
So aber soll es nicht unter euch sein!
Sondern wer groß unter euch sein will,
der sei euer Diener.
Und wer der erste unter euch sein will,
der sei Sklave aller!

Das hören die Leute gerne. Sie meinen dann, es sei möglich, ohne Gewalt Unterdrückung und Ausbeutung abzuschaffen.
Aber ich sage dir: Ohne den Druck der Gewalt wird sich in diesem Land nichts ändern!...
Jetzt ist daher die Stunde des gewaltsamen Widerstands! Jetzt ist nicht die Stunde des Nehemia! Jetzt ist nicht die Stunde des Jesus von Nazareth.« »Aber auch Jesus will, dass sich die Dinge verändern!« »Das ist es gerade: Er weckt die Hoffnung, es könne sich etwas verändern ohne Widerstand und Blutvergießen! Er ist schlimmer als die, die sagen, man müsse sich in alles schicken! Er will gleichzeitig Veränderung und Frieden — das ist eine Illusion! Eine gefährliche Illusion!«

Gerd Theißen, Der Schatten des Galiläers, Chr. Kaiser Verlag, München 1986, 125-132 (in Auszügen)

 


 
 

5. Aufgabe
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